Die Gegenwart

Deutschlands Osten: Die Erfindung des Ostdeutschen

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Chemnitz: Die Teilnehmer der Demonstration von AfD und Pegida warten Anfang September auf den Start ihres Marsches durch die Stadt.

Erst Pegida, jetzt Chemnitz – was ist nur mit dem Osten los? Wurden die Ostdeutschen durch den Einigungsprozess so gedemütigt, dass sie nun aus Wut die AfD wählen? Ein Gastbeitrag.

Die Wahlerfolge der AfD in den östlichen Ländern und die Demonstrationen in Chemnitz nach der tödlichen Messerattacke durch Migranten haben ganz Deutschland in Aufregung versetzt und achtundzwanzig Jahre nach der deutschen Vereinigung wieder einmal die Frage aufgeworfen: Was ist mit dem Osten los? Eine vielbeachtete Antwort aus dem Osten lautet: Die Ostdeutschen seien durch den Einigungsprozess gedemütigt worden, und diese Kränkung schlage nun in Wut um.

Hier sollen nur zwei der Argumente überprüft werden, die für die Kränkungsthese sprechen sollen: Das eine bezieht sich auf Umfragen, nach denen sich Ostdeutsche zunehmend als Bürger zweiter Klasse verstehen- das andere auf eine Untersuchung, die die Leipziger Universität im Jahr 2015 im Auftrag des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) durchgeführt hat. Demnach sind in den östlichen Ländern zwei Drittel der Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft von Westdeutschen besetzt. Diese westdeutsche Fremdbestimmung empöre die Ostdeutschen.

Westmark oder Ostmark?

Dass viele Ostdeutsche sich als Bürger zweiter Klasse fühlen, stimmt. Dass viele Westdeutsche in ostdeutschen Chefsesseln sitzen, stimmt auch. Aber erklärt das tatsächlich die Wut und den Hass, der bei manchen ostdeutschen Demonstrationen zum Ausdruck kommt? Kandel allerdings liegt in Westdeutschland, und dort gibt es auch rechtsextreme Demonstrationen.

Das Gefühl, Bürger oder Deutscher zweiter Klasse zu sein, ist nicht durch die deutsche Einigung entstanden. Die Ostdeutschen haben es in die Einigung mitgebracht. Seit meiner Kindheit wurde das Kürzel DDR aufgelöst in „Der Dumme Rest“, als ein Bedauern, nicht auch „abgehaun“ zu sein „nach drüben“. Es hat das Selbstvertrauen der DDR-Bürger nicht gestärkt, wenn ihre Verwandten sie besuchen durften, sie aber ihre Westverwandten nicht, und wenn dann der West-Mercedes neben dem Ost-Trabant stand.

Westdeutsche machten an Bulgariens Schwarzmeerküste im Neckermann-Hotel komfortabel Urlaub, und wir ostdeutschen Camper bekamen in demselben Hotel nicht einmal eine Tasse Kaffee für unser Geld – und das im „sozialistischen Bruderland“. Die Einheimischen fragten, wenn jemand deutsch sprach: „Deutscher oder DDR?“ Das hatte mächtigen Einfluss auf die Hilfsbereitschaft, denn gemeint war: Westmark oder Ostmark? Und warum war das so? Die Besatzungsmächte sind nicht nach Verdienst verteilt worden, haben aber ganz verschiedene Lebenschancen gewährt.

Ostdeutsche konnten während der DDR-Zeit weit weniger Vermögen ansammeln als die Westdeutschen in vergleichbarer Position. Auch in drei Generationen wird es deshalb im Westen mehr Vermögensmillionäre geben als im Osten. Aber hängt denn daran wirklich die Lebenszufriedenheit derer, die kein Millionenvermögen haben? Auch im Westen muss die Mehrheit mit der Tatsache leben, dass sie keine Millionäre sind.

Niemand zwingt Ostdeutsche, sich als Bürger zweiter Klasse zu verstehen. Aber wenn sie sich das einreden lassen, kann sie auch niemand hindern, sich so zu verstehen. Dass im Ganzen für das Wohlergehen der Ostdeutschen im Einigungsprozess nicht genug getan worden sei, diesen Schuh müssen sich Westdeutsche nicht anziehen. Allerdings gibt es in Transformationsprozessen dieses Ausmaßes immer auch Gruppen und Grüppchen, deren besonders vertrackte Situation nicht genug bedacht worden ist. Daraus ein Charakteristikum des Einigungsprozesses zu machen ist infam. Und es ist eine unbillige Forderung, im Zuge der deutschen Einigung hätten Ostdeutsche so gestellt werden müssen, als hätten sie vierzig Jahre nicht in der DDR, sondern in der Bundesrepublik gelebt. Bei der Rentenberechnung wird das übrigens ungefähr so praktiziert, andernfalls gäbe es im Osten, errechnet aus den tatsächlichen Beitragszahlungen, nur Hungerrenten.