Die Gegenwart

Michael Hüther: Die unentbehrliche Nation

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Die nationale Verspätung Deutschlands ist mit der im Jahr 1990 gefundenen staatlichen Einheit endgültig Geschichte: Erstmals seit der revolutionären Epoche um 1800 ist Deutschland nationalstaatlich keine offene Frage mehr. Indes zeitigt die Verspätung derzeit einen besonderen Ertrag: Die wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik.

Die Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren hat nicht nur das Interesse an der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts neu geweckt. Zugleich erlangt damit die These des deutschen Sonderwegs Aufmerksamkeit, die aus Kontinuitätslinien vom Kaiserreich zum Dritten Reich eine Kausalität ableitet: Aus der Annahme, das Reich von 1871 sei ursächlich für den Nationalsozialismus gewesen, folgt das Urteil, dieses Reich sei ein historischer Irrtum und sein Scheitern unvermeidbar gewesen. Von diesem Verdikt ist es nur ein kurzer Weg zu der Einschätzung, dass – zumindest für Deutschland – der Nationalstaat in seiner Prägung des 19. Jahrhunderts überholt und deshalb alles darauf auszurichten sei, ihn durch multinationale Strukturen in Europa zu überwinden.

Diese Sicht war das dominante Narrativ westdeutscher Politik, um Staat und Nation zu verstehen. Der moralische Bankrott des Jahres 1945 verlangte nach einer Selbstbindung der deutschen Nation durch Selbstüberwindung in Europa. Das schien jenen Wünschen nach einer europäischen Einigung zu entsprechen, die bei unseren Nachbarn nach dem Zweiten Weltkrieg artikuliert wurden. Allerdings hat die Idee von Europa sehr unterschiedliche Deutungen erfahren. In Deutschland gehörte die nationale Selbstverpflichtung für Europa zur Staatsräson. Erst dadurch legitimierte sich der Wunsch nach staatlicher Einheit, so die Bundesregierung in den „Briefen zur deutschen Einheit“ anlässlich der Ostverträge der siebziger Jahre. Bei unseren Nachbarn brach sich hingegen die Einsicht Bahn, dass die mehr als drei Jahrhunderte geübte Kongresspolitik zwischenstaatliche Konflikte nicht mehr einzuhegen vermochte. Auf Dauer konnte Frieden in Europa nur durch transnationale Strukturen hergestellt und garantiert werden.

Der im europäischen Vergleich offenkundige Mangel an einer überzeugenden nationalstaatlichen Lösung ist ein Signum der deutschen Geschichte seit dem Aufbruch zur Moderne, der sich in der „revolutionären Epoche“ von 1750 bis 1850 in vielfältiger Weise vollzog. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor 25 Jahren hat sich das Bild jedoch grundlegend verändert. Während die herausragenden Zeitzeichen der europäischen Geschichte seit dem Anbruch der Moderne – die Französische Revolution mit ihren bahnbrechenden neuen Einsichten der Gleichheit, der Menschenrechte, der Demokratie, kurz: die Ideen von 1789 – in ihrer Bedeutung unbestritten sind, gilt dies für die politische, gesellschaftliche und ökonomische Wende nicht, die mit dem Zerfall des Ostblocks eingeleitet wurde. Was sind die Ideen von 1989? Ist seitdem nicht ganz überwiegend Wirklichkeit geworden, was die Französische Revolution verhieß? Lernt Europa nicht doch trotz aller Rückschläge aus den negativen Seiten von Nation und Nationalismus, so jedenfalls, dass beides nicht mehr „in einem Säurebad tiefer Skepsis“ (Hans-Ulrich Wehler) liegt?