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Der Boxer der Herzen

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Auf solch eine BMW-Maschine hat manch einer lange gewartet. Jetzt ist sie da, die R nineT, pur und schnörkellos. Sie erfüllt die Sehnsucht nach dem puren Fahrzeug mit begreifbarer Technik.

Verrückt. Da stellt BMW drei nagelneue Maschinen hin, von denen zwei ein ungeheures technisches Feuerwerk abbrennen, sich durch ihre Größe und Wucht ins Blickfeld schieben, durch einen Prunk an Kraft, Ausrüstung, Komfort. Doch alle Neugier, alle Aufmerksamkeit richtet sich zunächst auf die dritte, die mit Abstand schlichteste, die mit dem älteren Motor, das vermeintliche Mauerblümchen. Nicht einmal der merkwürdig gestylte Name im Neuschreib kann verhindern, dass ihr die Sympathien zufliegen.

Die „nineT“ erfüllt eine Sehnsucht. Nach dem puren Fahrzeug- nach einer Technik, die überschau- und begreifbar ist wie früher- nach einem Charakter, der sich aus „look, sound and feel“ ergibt, wie die Traditionsexperten von Harley sagen. Ein anscheinend wachsender Teil der Motorradgemeinde ist vom Leistungswettrüsten gelangweilt. Immer umfassenderer elektronischer Tamtam interessiert ihn nicht. All die Assistenzsysteme, die Attraktionen, die in Menüs von Bordcomputern stecken und auf Knopfdruck zu aktivieren und zweifellos ein Fortschritt sind, aber vom Wesentlichen ablenken, lassen ihn kalt. Die nineT respektiert den Wunsch nach dem Einfacheren.

Pressevorstellung von drei neuen BMW-Boxer-Modellen: Da ist die frische R 1200 RT, der 17.000, in Vollausstattung gut 20.000 Euro kostende Langstreckentourer mit allen Schikanen bis hin zur einzigartigen Anfahrhilfe an Steigungen. Und da ist die neue R 1200 GS Adventure für 15.900 Euro aufwärts, die gewaltige Reiseenduro mit den Proportionen eines Bergs, der Kraft eines Büffels und der Wendigkeit eines Zirkusflohs. Aber alle sind scharf auf die nineT. Die ist sozusagen der Gegenentwurf zu den beiden anderen, die fast alles besser können, außer schnörkellos zu sein.

Rührende Einzelheiten

Die BMW-Entwickler sind selbst baff, welche Resonanz sie mit diesem Roadster erzeugen. Jetzt rechnen sie mit rund 10.000 Verkäufen im ersten Produktionsjahr, davon 2000 Exemplare in Deutschland, was in der Zulassungsstatistik einen Platz unter den ersten fünf bedeuten würde, obwohl die nineT nicht gerade ein Schnäppchen ist. 14.500 Euro plus Nebenkosten sind mindestens anzulegen. ABS gehört zur Serienausstattung, ansonsten ist das Werk ziemlich nackt: kein elektronisch regelndes Fahrwerk, keine unterschiedlichen Motorprogramme, nichts dergleichen. Nimmt man zum Vergleich das ebenfalls neue, aggressive, durchelektronisierte 160-PS-Vierzylinder-Naked-Bike S 1000 R für 12.800 Euro, erscheint der Preis der nineT ziemlich hoch.

Doch das Publikum ist dankbar: endlich etwas Klassisches aus München. Man meint ein Aufatmen zu vernehmen, dass BMW sich tatsächlich aufgerafft hat, etwas aus seiner langen Geschichte zu machen, Stilmittel früherer Epochen zu nutzen. Mehr noch: In der nineT überlebt der alte luftgekühlte 1200-Kubik-Zweizylindermotor, der in den anderen Boxermodellen (R 1200 GS, RT, Adventure) gerade durch das modernere, potentere Triebwerk mit Wasserkühlung abgelöst wird. Die nineT setzt den urwüchsigen Kerl mit abstehenden Ohren, 110 PS (81 kW) und 119 Nm Drehmoment bei 6000/min prächtig in Szene. Motor und Drumherum ergeben ein stimmiges Gesamtbild. Die nineT hat einen Charme wie Schmeling, sie erhebt den Boxer zum Kult.

Dabei ist sie nicht von gestern, technisch gesehen, und auch im Design kein Retro-Motorrad. Eher die zeitgemäße Interpretation eines traditionellen Konzepts mit klarem Kern, souveränem Fahrwerk (Telegabel statt Telelever), exzellenten Bremsen und wertiger Anmutung. Rührend sind Einzelheiten wie der Aluminium-Tank mit gebürsteten Seiten, glasperlengestrahlte Schmiedeteile, der auf der unteren Gabelbrücke stehend befestigte Rundscheinwerfer mit Metallgehäuse, das kleine BMW-Emblem auf der Glühlampenabdeckung, die Drahtspeichenräder, das wie einst mit dem Hammer an den Lenkkopf genietete Typenschild. Das mischt sich mit neumodischen Zutaten wie Digitaldisplay zwischen den Runduhren im Cockpit oder LED-Rücklicht. Nicht alles wirkt wie der endgültige Zustand. Mancher Besitzer wird hier und da den Drang zum Verändern verspüren, was im übrigen zur Idee dieses Fahrzeugs gehört. Mit seinem demontierbaren Soziusrahmen und Rahmenendstück, einem Angebot an Austauschteilen ist es von vornherein als Basis fürs „Customizing“ ausgelegt. Auch damit treffen die Weißblauen einen Nerv.

Drehfreudig und dynamisch

Das dunkle Boxer-Grollen aus dem serienmäßigen Akrapovic-Auspuff mit Doppeltrompete geht unter die Haut. Lautstärke: frech. Für BMW-Verhältnisse geriet das 222-Kilo-Paket extrem emotional. Die Sitzposition – Gesäß recht weit hinten, Oberkörper über den Tank gestreckt, Hände vorn – schmeckt nach alter Schule. Die breite Lenkstange winkelt einem die Ellbogen nach außen, vorzugsweise in den Ärmeln einer abgewetzten Lederjacke. Der Zweizylinder schiebt in jeder Lage satt voran, untermalt seine Arbeit mit angenehmem Grundvibrieren und hebt die Mundwinkel. Er ist der Boxer der Herzen. Es wäre schade um ihn gewesen.

Ach ja, die RT und die Adventure. Beide haben uns begeistert. Assistenzsysteme, Ausstattung, Agilität trotz Monströsität – fabelhaft. Auffällig: ihr wassergekühlter Boxer, der mit dem der vor einem Jahr vorgestellten R 1200 GS weitgehend identisch ist (125 PS, 125 Nm), allerdings in einem Punkt modifiziert wurde. Er hat mehr Schwungmasse, läuft daher in sehr niedrigen Drehzahlen runder und ruhiger, zieht wie ein Traktordiesel von unten heraus. Dass diese Maßnahme ein wenig Spritzigkeit kostet, lässt sich verschmerzen, denn das Triebwerk fühlt sich noch immer drehfreudig und dynamisch an. Die bessere Wahl auch für die Basis-GS? Das verdient, wie die beiden Reisemotorräder selbst, noch einmal eine gesonderte Betrachtung.