Die Gegenwart

Wie der Prinz in seinem Schloss?

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Jeder Staat steht vor der Aufgabe, den Schutz der Privatsphäre und die Gewährleistung nationaler Sicherheit gegeneinander abzuwägen. Dass es Unterschiede in der Rechtskultur gibt, sollte dabei nicht verwundern – auch nicht, dass es keineswegs ausgemacht ist, was der Privatsphäre zuzuordnen ist. In Amerika gehen die Uhren seit je anders.

Warum können die Behörden mich nicht in Ruhe lassen? Zurück! Zurück!“, ruft Natty Bumppo im vierten Band von James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Erzählungen und verwahrt sich dagegen, dass der Friedensrichter „seine verderblichen Moden auch in meiner Hütte zur Ausübung bringe“. Kaum fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit artikulierte Cooper durch den Mund seiner Romanfigur das individuelle Freiheitsstreben der Amerikaner und ihr tiefes Misstrauen gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht.

Nach den Enthüllungen des ehemaligen Mitarbeiters der National Security Agency (NSA) Edward Snowden ist in Deutschland immer wieder zu hören, Amerikaner hätten eine andere Auffassung über den Schutz ihrer Privatsphäre und ihrer persönlichen Daten als Europäer und Deutsche. Der unvermeidliche Hinweis auf die traumatische Erfahrung der Terroranschläge vom 11. September 2001 greift jedoch zu kurz. Er ignoriert die tiefverwurzelte Skepsis der Amerikaner gegenüber staatlicher Autorität im Allgemeinen und staatlicher Einmischung in das Privatleben der Bürger im Besonderen. Bis heute gibt es in den Vereinigten Staaten weder eine Melde- noch eine Ausweispflicht. Präsident Obamas jüngste Bemühungen um schärfere Waffenkontrollgesetze sind nicht zuletzt daran gescheitert, dass die Waffenlobby das Schreckbild an die Wand malte, der Staat wolle private Schusswaffen registrieren. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die amerikanische politische Kultur voller Widersprüche ist, wenn es um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit und um den Schutz der Privatsphäre geht.

Dieses Spannungsverhältnis ist ein klassisches Thema der politischen Theorie und keine amerikanische Besonderheit. Was die Geschichte der Vereinigten Staaten freilich besonders interessant macht, ist der augenfällige Kontrast zwischen einer libertären politischen Kultur, wie sie sich in keiner anderen westlichen Demokratie findet, und der immer wieder durchbrechenden Tendenz zu einer übersteigerten Furcht vor inneren und äußeren Bedrohungen. Wie weit die Regierung zum Schutz der nationalen Sicherheit in die Privatsphäre der Bürger eindringen darf, ist darüber hinaus durch zwei weitere Entwicklungen bestimmt worden: So hat der technologische Wandel die amerikanische Rechtskultur seit dem späten 19. Jahrhundert ständig zu Anpassungen genötigt. Gleichzeitig ist die Vorstellung maßgeblich geblieben, dass die Privatsphäre nicht nur einen Schutzbereich gegen staatliche Willkür konstituiert, sondern ein marktgängiges Eigentumsrecht ist. Auf dieses kann der Einzelne freiwillig verzichten, wenn er sich davon einen wirtschaftlichen Vorteil verspricht.

Diese Vorstellung unterscheidet die amerikanische von der deutschen Rechtskultur. Hierzulande gilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber dem Staat und gegenüber Dritten auch dann noch, wenn der Einzelne seine Daten schon aus der Hand gegeben hat. In Amerika hingegen weist Datenschutz eine eigentümliche Janusköpfigkeit auf: Er soll staatliche Eingriffe in die Privatsphäre möglichst energisch abwehren, vertraut im privatwirtschaftlichen Bereich aber weitgehend auf die Selbstregulierung des Marktes.

Die libertäre politische Kultur Amerikas hat ihre Ursprünge im Widerstand gegen die britische Krone, die sich ihrerseits einiges auf die englischen Freiheitsrechte zugutehielt. William Pitt der Ältere prahlte im Jahr 1763 im Parlament: „Der ärmste Tropf kann in seiner Hütte der gesamten Machtfülle der Krone trotzen. Sie mag morsch sein und das Dach wacklig- der Wind mag hindurchblasen, Sturm und Regen mögen eindringen, aber der König von England darf nicht eintreten- all seine Gewalt darf sich nicht erdreisten, die Schwelle der zerfallenen Wohnstatt zu überschreiten.“ Den Kolonisten in der Neuen Welt musste dies freilich wie Hohn in den Ohren klingen. Seit Jahren drangen Zollbeamte der Krone, ausgestattet mit unbefristeten Generalvollmachten (writs of assistance), nach Gutdünken in Schiffe, Lager und Wohnhäuser der Kaufleute ein, um gegen den weitverbreiteten illegalen Handel der Neuengländer mit Franzosen und Spaniern vorzugehen und Schmuggelgut zu beschlagnahmen. Die Kolonisten sahen darin eine Verletzung ihrer Rechte und Freiheiten, die von der (ungeschriebenen) englischen Verfassung geschützt waren.

Als im Jahr 1760 ein Zollbeamter in Massachusetts die Krone um eine neue Generalvollmacht bat, trat ein Bostoner Rechtsanwalt dem energisch entgegen. Das englische Recht, so James Otis, mache das Heim eines Mannes zu seiner Burg, in der er „so sicher wie ein Prinz in seinem Schloss“ sein müsse. Hausdurchsuchungen und Beschlagnahme seien nur bei schwerwiegendem Verdacht und richterlichem Durchsuchungsbefehl im Einzelfall zulässig. Otis konnte das Kammergericht der Kronkolonie zwar nicht überzeugen, elektrisierte aber einen seiner Zuhörer. „Otis war ein brennender Dornbusch“, schrieb John Adams, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten und von 1797 bis 1801 ihr zweiter Präsident, mehr als ein halbes Jahrhundert später: „In diesem Moment wurde der Spross der Unabhängigkeit geboren.“

Adams selbst verfasste während des Unabhängigkeitskrieges einen Grundrechtskatalog, der die Bürger von Massachusetts gegen ungebührliche Durchsuchungen schützen sollte. Er lieferte damit die Vorlage für James Madisons Entwurf des vierten Zusatzartikels zur amerikanischen Verfassung von 1787. Zusammen mit neun weiteren Zusätzen bildet er die 1791 verabschiedete Bill of Rights, die verhindern sollte, dass eine übermächtige Bundesregierung die Freiheit der Bürger bedroht. Kodifiziert wurden deshalb fundamentale Freiheitsrechte wie die Rede- und Religionsfreiheit, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren und der Schutz des Privateigentums. Der vierte Verfassungszusatz schützt das „Recht des Volkes auf Sicherheit der Person und der Wohnung, der Urkunden und des Eigentums“, verbietet „willkürliche Durchsuchung und Beschlagnahme“ und verlangt genau bezeichnete Durchsuchungsbefehle, die auf einem „hinreichenden Tatverdacht“ beruhen müssen. Bis heute bildet das vierte Amendment die wichtigste verfassungsrechtliche Grundlage für das amerikanische Verständnis einer vor staatlicher Willkür geschützten Privatsphäre.

Als klassisches Abwehrrecht, das die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden einschränkt, musste der vierte Verfassungszusatz immer wieder gegen öffentliche Sicherheitsinteressen abgewogen werden – eine Aufgabe, die in letzter Instanz dem Obersten Gerichtshof zufällt und die allein deshalb nicht einfach ist, weil der Text des Amendments mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet: Ist jede Durchsuchung ohne richterliche Anordnung per se willkürlich, oder dürfen Polizeibeamte zur Gefahrenabwehr und Sicherung von Beweismaterial auch ohne Durchsuchungsbefehl handeln und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? Was begründet einen „hinreichenden Tatverdacht“? Muss ein Richter einen Durchsuchungsbefehl ausstellen oder darf dies auch der Präsident, wenn er die nationale Sicherheit gefährdet sieht? Wen und was schützt der vierte Verfassungszusatz genau?

In den ersten einhundert Jahren nach Inkrafttreten der Verfassung hatte der Supreme Court nur wenige einschlägige Fälle zu entscheiden. Erwähnenswert ist eine Entscheidung aus dem Jahr 1878, die es Bediensteten der Post untersagte, bei der Suche nach „obszöner Literatur“ Postsendungen ohne richterliche Anordnung zu öffnen. Acht Jahre später urteilte das Oberste Gericht in „Boyd gegen die Vereinigten Staaten“, dass die erzwungene Herausgabe persönlicher und geschäftlicher Unterlagen eine „willkürliche Durchsuchung“ im Sinne des vierten Verfassungszusatzes darstelle. Erstmals deuteten die Richter auch an, unrechtmäßig erlangte Beweise sollten vor Gericht keine Verwendung finden- 1914 wurde diese Regel für Bundesgerichte bindend und später auf die Gerichte der Einzelstaaten ausgedehnt. Kritiker allerdings sehen in dieser Ausschlussregel, die lange Zeit sehr streng angewendet wurde, einen Freibrief für überführte Kriminelle.

Als die Alkoholprohibition in den zwanziger Jahren dem organisierten Verbrechen eine Blütezeit bescherte, wurde die Rechtsprechung restriktiver, zumal die moderne Technik neue Probleme aufwarf. Sollten zum Beispiel Automobile denselben Schutz genießen wie private Wohnräume? Zwei Alkoholschmuggler, deren Fahrzeug Bundespolizisten ohne richterliche Anordnung durchsucht hatten, beriefen sich vergeblich auf das vierte Amendment. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass sich die Polizei zwar, wenn möglich, Durchsuchungsbefehle besorgen müsse, jedoch bei hinreichendem Verdacht Automobile unverzüglich durchsuchen dürfe, bevor diese der polizeilichen Kontrolle entzogen werden konnten. Noch wichtiger war der Olmstead-Fall aus dem Jahr 1928, in dem es um die Verwertbarkeit von Abhörprotokollen vor Gericht ging. Die Bundespolizei hatte monatelang ohne richterliche Genehmigung die Telefone von Alkoholschmugglern abgehört. Die Mehrheit der Obersten Richter sah keinen Grund zur Beanstandung, da die Abhörgeräte nicht in Privaträumen installiert waren und deshalb weder eine Durchsuchung noch eine Beschlagnahme stattgefunden habe. Wer, so das Gericht weiter, ein Telefon installiere, tue dies, um mit Personen außerhalb seiner Wohnung zu kommunizieren, der vierte Verfassungszusatz schütze jedoch nur die Wohnung selbst. In einem berühmten abweichenden Votum prognostizierte Richter Louis D. Brandeis hellsichtig weitere technologische Fortschritte, die der Regierung Zugang zu vertraulichen Unterlagen ermöglichten, ohne dass ein Eindringen in Privaträume erforderlich sei. Brandeis verlangte, die Sicherungen der Verfassung auf ein zeitgemäßes Verständnis der Privatsphäre auszudehnen.

Der Richter hatte längst erkannt, dass der Privatsphäre nicht nur vom Staat Gefahr drohte. Mit dem Aufkommen der Sensationspresse, moderner Werbemethoden und fotografischer Reproduktionstechnik wuchs die Versuchung, Privatsphäre und Persönlichkeit prominenter Zeitgenossen kommerziell auszunutzen. In einem bis heute wegweisenden Aufsatz, den Brandeis zusammen mit seinem Juristenkollegen Samuel Warren im Jahr 1890 veröffentlichte, definierte er Privatsphäre (privacy) ganz im Sinne Natty Bumppos als „das Recht, in Ruhe gelassen zu werden“. Bei Verletzungen durch Dritte, etwa die Medien, plädierten die Autoren jedoch nicht für strafrechtliche, sondern für zivilrechtliche Sanktionen wie Schadensersatz und Unterlassungsverfügungen. Im Umkehrschluss bedeutet dies indessen auch, dass Personen, die ihre Persönlichkeit freiwillig vermarkten, nur eingeschränkt darauf pochen dürfen, in Ruhe gelassen zu werden. Dieses Verständnis der Privatsphäre als eines marktgängigen Eigentumsrechtes hat weitreichende Konsequenzen. Denn wer bei einem Rechtsgeschäft persönliche Daten angibt, hat nach amerikanischem Verständnis keinen Anspruch mehr auf Datenschutz.

Während der Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre dehnte der Supreme Court das „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“, auch auf die Schlafzimmer gesetzestreuer Bürger aus. Er annullierte damit die antiquierten Gesetze einzelner Bundesstaaten, die den Gebrauch von Verhütungsmitteln verboten. 1973 bildete das right to privacy die Grundlage für die bis heute umstrittene Liberalisierung der Abtreibung. Es passte zum liberalen Zeitgeist, dass die Obersten Richter 1967 auch die Olmstead-Entscheidung revidierten und feststellten, der vierte Verfassungszusatz schütze nicht Wohnräume, sondern die gesamte Privatsphäre der Bürger, wo immer diese „vernünftigerweise“ vorausgesetzt werden dürfe.

Das Kriterium der „vernünftigen Erwartung“ erwies sich im Hinblick auf den Datenschutz allerdings als Trojanisches Pferd. Denn als Indiz für eine solche Erwartung sollte das tatsächliche Bestreben der Betroffenen gelten, private Informationen vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Seit den siebziger Jahren verneinen die Richter daher grundsätzlich eine Verletzung der Privatsphäre, wenn die Behörden sich Daten von Dritten besorgen, denen der Bürger diese zuvor anvertraut hat, sei es die Hausbank (Vereinigte Staaten gegen Miller, 1976), die Telefongesellschaft (Smith gegen Maryland, 1979) oder heutzutage auch ein Internetdienstleister.

Auf diese Rechtsprechung beruft sich die Obama-Regierung, wenn sie wie jüngst in ihrem Weißbuch die massenhafte Speicherung von Kommunikationsdaten auch ohne Vorliegen eines konkreten Tatverdachts mit Verweis auf die Smith-Entscheidung als verfassungskonform rechtfertigt. Im Informationszeitalter macht diese Logik aus dem Bürger freilich einen Eremiten und setzt Privatsphäre mit Geheimniskrämerei gleich.

Verschärft wird diese Entwicklung durch das Zusammenwirken von „Big Data“ und „Big Government“. Die technischen Möglichkeiten, unvorstellbar große Datenmengen zu erfassen und umfassend auszuwerten, ermöglichen es, ein fast lückenloses Profil jedes Bürgers zu erstellen, das privatwirtschaftlichen Interessen ebenso dienlich sein kann wie staatlichen Sicherheits- oder Kontrollinteressen. Die Regierung reklamiert unter Berufung auf den Schutz der Bürger und der nationalen Sicherheit einen möglichst ungehinderten Zugriff auf diese Informationen.

Der „Nationale Sicherheitsstaat“, wie die aus unzähligen militärischen und zivilen Institutionen bestehende Sicherheitsarchitektur der Vereinigten Staaten genannt wird, ist ein Kind des Kalten Krieges. Seine Ausweitung verlief Hand in Hand mit einer Machtverschiebung zugunsten der Exekutive und der Ausbildung der modernen, zuweilen als imperial bezeichneten Präsidentschaft. Gewiss hatten Krisen und Kriege schon lange zuvor zu Grenzüberschreitungen geführt. Während des Unabhängigkeitskrieges autorisierte Pennsylvania Hausdurchsuchungen bei allen, die den Aufständischen keinen Treueschwur leisten wollten. Die „Alien and Sedition Acts“ aus dem Jahr 1798 gaben dem Präsidenten das Recht, Ausländer im Namen der nationalen Sicherheit zu deportieren. Überdies bedrohten sie jeden mit Repressalien, der „böswillige“ Nachrichten über die Regierung verbreitete. Abraham Lincoln setzte im Bürgerkrieg den Schutz vor willkürlicher Inhaftierung (Habeas Corpus) außer Kraft. Im Ersten Weltkrieg verabschiedete der Kongress Spionage- und Konspirationsgesetze, die jeden, der die Verfassung, den Präsidenten, den Krieg oder die Wehrpflicht kritisierte, ins Gefängnis oder bei Landesverrat gar auf den elektrischen Stuhl bringen konnten. Nach 1919, als Amerika die Furcht vor einem Übergreifen der bolschewistischen Revolution ergriff, ordnete das Justizministerium illegale Massenverhaftungen „subversiver Personen“ an. Während des Zweiten Weltkrieges autorisierte Präsident Franklin D. Roosevelt umfangreiche Abhöraktionen des FBI und veranlasste die kollektive Internierung von 120 000 Amerikanern japanischer Abstammung.

Der Kalte Krieg und die neuartige Bedrohung durch die Atombombe führten dazu, dass nach 1945 die Machtbefugnisse der Exekutive auf dem Feld der nationalen Sicherheit nicht verringert, sondern ausgedehnt wurden. Mit der Bildung des Nationalen Sicherheitsrates, eines einheitlichen Verteidigungsministeriums sowie der Geheimdienste CIA (1947) und NSA (1952) entstand der in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden operierende national security state. Mit dem neuen Bedrohungsszenario verband sich die Forderung, dass die demokratischen Spielregeln und verfassungsrechtlichen checks and balances den Erfordernissen der nationalen Sicherheit unterzuordnen seien. In der Tat gesteht der ausgeprägte Patriotismus der Amerikaner – das Pendant zu ihrem Individualismus – der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik eine Handlungsfreiheit zu, die die Bürger in innenpolitischen Angelegenheiten niemals hinnehmen würden. Die „nationale Sicherheit“ ist daher für das Weiße Haus zu einer Zauberformel geworden. Richard Nixon und George W. Bush beanspruchten mehr oder weniger unverhohlen, dass alles, was der Präsident zur Wahrung der nationalen Sicherheit tue, per se rechtmäßig sei.

Paradoxerweise hat der Nationale Sicherheitsstaat eher das Gefühl der Unsicherheit verstärkt, indem er die Nation als permanent bedroht erscheinen lässt. Auf diesem Boden gediehen die antikommunistische Hysterie der McCarthy-Ära ebenso wie die illegalen Schnüffel- und Infiltrationskampagnen des FBI gegen Martin Luther King und andere Bürgerrechtler oder auch Gegner des Vietnam-Krieges. Richard Nixon und Henry Kissinger ließen die Telefone ihrer eigenen Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat abhören, um herauszufinden, wer Informationen an die Presse weitergab. Die Aufdeckung der zahlreichen kriminellen Abhör- und Bespitzelungsaktionen der Nixon-Regierung – die Verwanzung der demokratischen Wahlkampfzentrale im Washingtoner Watergate Hotel war nur die Spitze des Eisbergs – kostete den Präsidenten jedoch 1974 sein Amt. Eine bis heute beispiellose Untersuchung der Geheimdienste durch den Kongress schloss sich an.

Um Auslandsaufklärung und Spionageabwehr auf eine neue gesetzliche Grundlage zu stellen, verabschiedete der Kongress im Jahr 1978 den Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA). Die Spionageabwehr im Ausland blieb dabei frei von richterlicher Überprüfung. Für das Ausspähen ausländischer Personen auf dem Boden der Vereinigten Staaten verlangte das Gesetz aber eine richterliche Genehmigung. Zu diesem Zweck wurde ein geheim tagender Gerichtshof geschaffen, der Foreign Intelligence Surveillance Court (FISC). Das Gericht, das aus elf vom Vorsitzenden Richter des Supreme Court ernannten Bundesbezirksrichtern besteht, hat zwischen 1979 und 2012 von 34 000 Überwachungsanträgen nur elf abgelehnt. Kritiker sprechen von einem parallelen Supreme Court, der eine eigene, extrem weit reichende Rechtsprechung zum vierten Verfassungszusatz entwickelt habe. Die Richter können sich dabei auf die Doktrin der „besonderen Erfordernisse“ stützen, die von der regulären Gerichtsbarkeit schon vor mehr als zwei Jahrzehnten entwickelt wurde, um Eingriffe in die Privatsphäre, etwa Zwangstests auf Alkohol und Rauschgift, auch ohne Vorliegen eines konkreten Tatverdachtes zu rechtfertigen. Im Zeitalter des „War on Terror“ nahmen die „besonderen Erfordernisse“ der nationalen Sicherheit allerdings eine neue Dimension an.

Dass nach 9/11 die Stunde der Exekutive schlug und die Bush-Regierung zahlreiche neue Vollmachten im Kampf gegen den Terrorismus erhielt, war angesichts der Monstrosität der Anschläge verständlich. Der im Oktober 2001 verabschiedete und seither mehrfach verlängerte „Patriot Act“ gab der Regierung weitreichende Vollmachten beim Ausspionieren terrorismusverdächtiger Personen, verpflichtete die Anbieter von Telefon- und Online-Diensten, die Verbindungsdaten ihrer Kunden zu speichern und nach Genehmigung durch den FISC an die NSA weiterzugeben, und lockerte das Verbot geheimdienstlicher Überwachung amerikanischer Bürger.

Präsident Bush ging das aber offenbar nicht weit genug, denn wie die „New York Times“ im Jahr 2005 berichtete, autorisierte er per Geheimerlass zusätzliche Abhöraktionen gegen seine Landsleute. In einer Art Public-Private Partnership mit großen Telekommunikationsunternehmen spionierte die NSA dabei Amerikaner ohne jeglichen Gerichtsbeschluss aus. Als Konsequenz aus dem Skandal stärkte der Kongress nicht etwa den Datenschutz, sondern legalisierte die bisherige Praxis und gewährte den Firmen, die an dem illegalen Lauschangriff beteiligt waren, Immunität vor Strafverfolgung sowie vor zivilrechtlichen Klagen. Mit dem Argument, wer die Nadel im Heuhaufen finden wolle, müsse erst einmal den Heuhaufen haben, hat die NSA inzwischen Abermilliarden von Verbindungsdaten gespeichert. Dass dabei unweigerlich auch Millionen Amerikaner im „Heuhaufen“ landen, hat die Bürger des Landes nun aufgeschreckt.

Zwölf Jahre nach dem 11. September ist die amerikanische Öffentlichkeit über die Frage gespalten, ob sie der Regierung weiterhin so außerordentliche Machtbefugnisse zugestehen soll. Jüngsten Umfragen zufolge halten sich Befürworter und Gegner des Patriot Act die Waage- eine Mehrheit möchte der Regierung den Zugriff auf ihre persönlichen Daten erschweren. Kritik an der Schnüffelei der Geheimdienste kommt keineswegs nur von links, sondern auch von konservativen Staatsskeptikern wie dem ehemaligen Richter Andrew Napolitano. Der Kommentator von Fox News bezeichnete den Patriot Act kürzlich als Neuauflage der writs of assistance, weil er es Polizei und Geheimdiensten gestatte, die Daten der Bürger nach eigenem Gutdünken zu durchforsten, und Internetanbieter zu Hilfspolizisten mache. Die Obama-Regierung beteuert demgegenüber, die Speicherung und Auswertung von Kommunikationsdaten dienten allein der Bekämpfung des Terrorismus und würden streng kontrolliert, um Missbrauch zu verhindern. Jüngste Berichte zeigen indes, dass dies keineswegs immer gelingt. Selbst der Vorsitzende Richter des FISC ließ verlauten, dass das Gericht nicht in der Lage sei zu prüfen, ob die Angaben der Behörden stichhaltig seien.

Die Amerikaner interessieren sich bei alldem vornehmlich dafür, ob amerikanische Geheimdienste die Rechte von amerikanischen Staatsbürgern verletzen. Dass deren Praktiken deutsche sowie europäische Gesetze und Datenschutzbestimmungen missachten, ist kaum der Rede wert. Im Unterschied zum „postnationalen“ Selbstbild der Europäischen Union pflegen die Vereinigten Staaten ein traditionelles und imperiales Souveränitätsverständnis, dem zufolge die nationale Sicherheit Vorrang vor der Souveränität anderer Nationen hat, ob verbündet oder nicht. Wer im Konfliktfall obsiegt, ist auch eine Machtfrage, wie der Zwist zwischen den Vereinigten Staaten und der EU über die Übermittlung persönlicher Fluggastdaten durch die Fluggesellschaften demonstriert.

Die amerikanischen Behörden verlangen seit dem Jahr 2003 von den Fluggesellschaften, dass sie persönliche Informationen über die Amerika-Reisenden weitergeben, darunter Kreditkartennummern, Telefonnummern oder auch die Namen von Begleitpersonen. Nach den Richtlinien der EU dürfen diese nur weitergeleitet werden, wenn der Datenschutz gewährleistet ist. Ein Abkommen aus dem Jahr 2004 stieß auf Widerstand im Europäischen Parlament und wurde 2006 vom Europäischen Gerichtshof aufgehoben, weil die Vereinigten Staaten die Datenschutzbestimmungen der EU nicht erfüllten. Während die Vereinigten Staaten jedoch Fluggesellschaften, welche die amerikanischen Gesetze nicht einhalten, mit hohen Geldstrafen bedrohen, unternimmt die EU keine ernsthaften Versuche, ihre Datenschutzrichtlinien gegenüber Washington durchzusetzen. Stattdessen wurde lange Zeit stillschweigend vorausgesetzt, dass amerikanische Unternehmen, die sich förmlich verpflichtet haben, europäische Datenschutzstandards einzuhalten, das auch tun. Snowdens Enthüllungen lassen nun erkennen, dass dies eine Wunschvorstellung ist. Tatsächlich stehen Fluggesellschaften und Unternehmen wie Microsoft, Google oder Facebook vor dem Dilemma, entweder europäisches Recht brechen oder gegen die Vorschriften des Patriot Act verstoßen zu müssen.

Wie andere Länder auch stehen die Vereinigten Staaten vor der Aufgabe, Sicherheitsbedürfnisse und persönliche Freiheitsrechte neuen Bedrohungsszenarien und der rasanten Entwicklung der Kommunikationstechnologien anzupassen. Dabei haben sich die gewohnten Grenzen längst verwischt: Innere und äußere Sicherheit sind in Zeiten des internationalen Terrorismus und der Cyberkriege kaum noch sauber voneinander zu scheiden- elektronische Kommunikation, die kreuz und quer über den Globus läuft, bevor sie ihren womöglich nur wenige Kilometer vom Ausgangspunkt entfernten Bestimmungsort erreicht, ist schwerlich noch eindeutig einer inländischen oder ausländischen Ablage zuzuordnen. Die publik gewordenen Rechtsverstöße der NSA zeigen, dass die Bemühungen des amerikanischen Gesetzgebers, unterschiedliche Datenschutzhürden für Amerikaner und Ausländer zu errichten, wohl zum Scheitern verurteilt sind. In der Ära von Big Data sind Inländer und Ausländer so wenig auseinanderzuhalten wie staatliche und privatwirtschaftliche Beobachtungsposten.

Um massenweise vagabundierende Daten unter Kontrolle zu halten und den Bürger vor deren Missbrauch zu schützen, müssen die Nationalstaaten extraterritoriale Zuständigkeitsansprüche stellen, die unweigerlich mit den Souveränitätsansprüchen anderer Länder kollidieren. Doch anstatt die vorhandenen Notbehelfe aufzugeben und Gesprächsfäden in einem Akt der Empörung zu kappen, sollten die transatlantischen Partner versuchen, sich auf gemeinsame datenschutzrechtliche Regelungen zu verständigen. Die Renaissance des traditionellen libertären Freiheitsdenkens in Amerika dürfte diesem Versuch zugutekommen.