Die Gegenwart

Bist du gegen den Frieden?

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Viktor Orbán ist Ministerpräsident von Ungarn.

Europa hat der EU viel zu verdanken, aber der Hinweis auf diese historische Wahrheit reicht nicht, um die Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Sie kann nur dann wieder erfolgreich werden, wenn sie den Bürgern das Gefühl von Sicherheit zurückgibt.

Vor ein paar Wochen war ich in Oggersheim. Es ist immer ein erhebendes Gefühl, mit Bundeskanzler Helmut Kohl über Europa zu sprechen. Auf dem Weg zum Stammhaus der Deutschen Telekom in Bonn, wo ich einen kleinen Vorgeschmack auf die Herausforderungen der Digitalisierung bekam, die uns überfluten, besuchte ich das Haus von Konrad Adenauer. Ich sah von der Terrasse in Röhndorf, vor den Statuen von Adenauer und de Gaulle, wie der Rhein am Nachmittag im Sonnenlicht badete. Die an den beiden Seiten des Flusses lebenden Menschen haben Europas erfolgreichstes Projekt in die Wege geleitet. Weshalb befindet sich die Union nun dennoch in einem so labilen und ungewissen Zustand? Es herrscht seit Jahrzehnten Frieden, und der – wenn auch nicht gleichmäßig verteilte – Wohlstand macht Europa zum begehrtesten Winkel der Erde. Weshalb die vielen Zweifel und Ressentiments der Menschen?

European Heads of States and Governments Summit Viktor Orbán ist Ministerpräsident von Ungarn.

Am frühen Morgen des 24. Juni, als auch die letzten Ergebnisse aus den britischen Wahlkreisen ankamen, wurde klar, dass das große Projekt in einem großen Mitgliedstaat die Unterstützung der Mehrheit der Bürger verloren hat. Die Sonne ist auch am 24. Juni aufgegangen, es ist jedoch ein Abschnitt in der Geschichte der europäischen Integration zu Ende gegangen, und ein neuer hat begonnen. Besitzen wir den nötigen Mut und die Ehrlichkeit, diese Situation zu verstehen, und darauf mit Respekt vor unseren Vorfahren und im Interesse unserer Bürger, Nationen und unserer Gemeinschaft möglichst bald richtige Antworten zu geben?

Wenn man in der ehemaligen DDR auch nur vorsichtig versuchte, offensichtliche Probleme zur Sprache zu bringen, so wurde dem Zweifelnden gegenüber ein einziges dummes, aber unanfechtbar erscheinendes Argument hervorgebracht: „Genosse, bist Du gegen den Frieden?” Die Union, die eine ganze Reihe von Krisen durchmacht, kann sich der kritischen Erörterung von Grundfragen nicht mit der Aufforderung entziehen, dass diejenigen, die Zweifel an diesem großen Projekt haben, die Soldatenfriedhöfe besuchen sollten. Für den Fortbestand der EU reicht die historische Wahrheit nicht aus.

2005 knackste es

Der europäische Aufbau ist über lange Jahre hinweg nicht reibungslos, aber grundsätzlich konsequent vorangegangen. Die Vertiefungs- und Erweiterungsrunden haben wie die Zähne eines Reißverschlusses ineinander gegriffen. Zu den erhebendsten Momenten gehörten die deutsche Vereinigung 1990 und die Einigung Europas 2004.

Im Jahr 2005 wurde dann etwas angeknackst. Die Bürger zweier Gründungsstaaten – Frankreichs und der Niederlande – haben den Verfassungsvertrag abgelehnt. Anders als bei den Referenden in Dänemark und Irland zu früheren EU-Verträgen konnte man hier nicht erwägen, den Vertrag nach einer kleineren Korrektur noch mal zur Abstimmung zu stellen. Die Integrationsdynamik Europas wurde gebrochen. Bis es durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu einer Korrektur kam, brach eine globale Krise über uns herein. Ein, zwei Jahre lang konnte die Krise noch verheimlicht werden, aber 2008 erlitt die bislang durch Erfolge in der Wirtschaft legitimierte Elite Europas einen Rückschlag. Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise wurde die Illusion zunichtegemacht, dass die Union all ihren Bürgern kontinuierlichen und sogar wachsenden Wohlstand garantieren kann. Die Krise der Elite wuchs in mehreren Mitgliedstaaten zu einer Demokratiekrise heran.