
Die Glocken läuten mit voller Kraft an diesem kühlen Morgen. Die ältere Frau in Reihe fünf hat Mütze und Mantel angelassen, sie schlägt schon einmal das Gesangbuch auf. Eine andere Frau, die mit zwei Plätzen Abstand in der gleichen Reihe sitzt, ruft leise hinüber: „Leg weg, das brauchst du nicht. Heute wird doch nicht gesungen.“ Die Angesprochene nickt, beide lächeln sich zu. Es seien eben „komische Zeiten“, wird Pfarrer Norbert Reißmann später sagen. „Wir wollten heute Lieder singen. Aber mit Mundschutz konnte ich mir das nicht vorstellen.“
Also liest der Pfarrer die jeweils erste Strophe eines Liedes laut vor, dann setzt die Orgel ein, und statt des Gesangs spielt ein Gemeindemitglied auf der Blockflöte. Klar und hell klingt die Musik durch die kleine Dorfkirche von Niederau bei Meißen. So wird aus der Improvisation ein stimmungsvoller Gottesdienst.
Sechs Wochen lang mussten die Gemeindemitglieder hier – wie alle in ganz Sachsen – auf den Kirchgang am Sonntag verzichten. Als erstes Bundesland hat der Freistaat dann vor einigen Tagen verkündet, dass neben den Baumärkten auch die Kirchen wieder öffnen können. In die Baumärkte dürfen Heimwerker mit Mundschutz, Einkaufswagen und desinfizierten Händen nahezu ungezählt strömen, in den Kirchen müssen die Pfarrer die Zahl ihrer Schäfchen allerdings exakt bestimmen – mehr als 15 dürfen nicht hinein.
