Ausland

Erdogans Kalkül: Flüchtlinge als Drohkulisse

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Migranten fliehen vor dem Tränengas der griechischen Polizei.

Solche Szenen waren an der griechischen Grenze lang nicht mehr zu sehen: Rauchschwaden, Tumult, panische Schreie. Nachdem Erdogan im Fernsehen eine „Grenzöffnung“ verkündet hatte, packten offenbar an vielen Orten in der Türkei Flüchtlinge die Taschen. Reportern sagten sie frohgemut: „Wir dürfen jetzt rüber!“, das hätten ihnen die Gendarme gesagt. Aus Istanbul fuhren volle Busse zur Grenze.

Was die Gendarme ihnen nicht sagten: Griechenland lässt keinen rein. Das böse Erwachen gab es erst an der Grenze. Mit Tränengas wurden die Leute zurückgejagt. Manche setzten sich erschöpft ins nasse Gras, andere warfen Steine. Die mehr als sechzig Migranten, die es irgendwie auf griechisches Territorium schafften, kamen sofort ins Gefängnis.

Es ist widerwärtig, so mit Menschen umzugehen. Erdogan missbraucht die Migranten als Drohkulisse für Europa. Er lockt sie mit falschen Versprechen ins Tränengas und lässt sie das letzte Geld für eine Reise ins Nirgendwo ausgeben.

Er tut das aus zwei Gründen: Er beschwichtigt damit all jene Türken, die schon länger Unmut gegen die vielen Syrer im Land hegen. Und er will von seinem hausgemachten Desaster in Syrien ablenken.

Sein Einsatz im syrischen Krieg ist bei der Bevölkerung nicht populär. Doch das Versprechen, die Syrer in der eroberten „Sicherheitszone“ anzusiedeln und dafür die verhassten Kurden fernzuhalten, kam bei der Mehrheit gut an. Und solange die eigenen Leute heil blieben, gab es nicht viel Grund zur Klage. Das ist jetzt anders. 36 türkische Soldaten kamen bei einem syrischen Luftangriff am Donnerstag um, damit sind nun mehr als 50 Türken im Februar in Idlib gefallen.

Erdogan steht unter enormen Druck

Es zeigt sich immer mehr, dass Erdogan sich in Syrien in eine Sackgasse manövriert hat, und das dürfte dem Wahlvolk zu Hause nicht verborgen bleiben. Seit der verlorenen Wahl in Istanbul sinkt Erdogans Stern. Sein Zickzackkurs in Syrien macht den Präsidenten unglaubwürdig. Einerseits paktiert er mit brutalen Islamisten, andererseits kauft er russische Raketen und verprellt für seinen Flirt mit Moskau die Nato. Er fordert Solidarität vom Westen ein, aber verletzt auf unverantwortliche Weise das Abkommen mit der EU.

Nun steht Erdogan unter enormen Druck. Er führt einen direkten Krieg mit Syrien und einen indirekten mit Russland. Die Bomben in Idlib könnten eine riesige Flüchtlingsbewegung in Gang setzen. Der Konflikt im Nachbarland kostet immer mehr Geld und Leben. Ein Preis, den viele Türken angesichts der schwächelnden Wirtschaft vermutlich nicht mehr zahlen wollen.

Kein Wunder, dass Erdogan da mehr Geld von der EU will – und zwar Geld, das direkt in den Staatsetat fließen soll, nicht mehr an Hilfsorganisationen. Die Europäer sollten ihm diesen Wunsch nicht erfüllen. Sonst käme europäisches Geld womöglich nicht mehr den Vertriebenen zugute, sondern einem völkerrechtswidrigen Militäreinsatz, der auch Kurden in die Flucht treibt.

Doch es ist nicht so, als hätte der Krieg in Syrien nichts mit uns zu tun. Wenn Deutschland ein zweites 2015 verhindern will, sollte die Bundesregierung nicht einfach dabei zuschauen, wie Russen und Türken sich das Land aufteilen.

Die Verteidigungsministerin hatte vor einigen Monaten eine ganz gute Idee, die allerdings wieder in der Versenkung verschwand: eine gemeinsame Sicherheitszone. Und auch der Außenpolitiker Kiesewetter weist zu Recht darauf hin, dass Geld allein nicht reicht, um eine humanitäre Krise zu verhindern. Er fordert europäische Flüchtlingslager auf türkischem Boden. Es ist Zeit, zu handeln.