In Paris wird die Waffe versteigert, mit der sich Vincent van Gogh erschossen haben soll. Bis heute steht die Frage im Raum: Wollte der berühmte Künstler sterben?
Spät am Abend kehrte Vincent van Gogh an jenem 27. Juli von einem Spaziergang in die Auberge Ravoux zurück. Die zwölfjährige Adeline Ravoux, die van Gogh erst wenige Wochen zuvor gemalt hatte, sah ihn kommen und auf sein Zimmer gehen. „Vincent ging gebeugt“, erzählte sie später. Merkwürdig habe er ausgesehen, als er die Treppe hinaufstieg. Sie und ihr Vater, Arthur-Gustave Ravoux, lauschten eine Weile an der Tür. Als sie glaubten, ein Stöhnen zu vernehmen, seien sie hineingegangen, erinnerte sich Adeline Ravoux. „Was ist los? Sind sie krank?“, habe ihr Vater gefragt. Vincent habe nur sein Hemd hochgezogen und ihnen eine kleine Wunde direkt unter seinem Herzen gezeigt. „Malheureux, was haben Sie getan?“ – „Ich habe versucht, mich umzubringen.“ An seiner Aussage hielt der Schwerverletzte auch am nächsten Morgen fest, als ihn zwei Polizisten befragten: Man solle bloß keinen anderen beschuldigen, sagte van Gogh, es sei seine freie Entscheidung gewesen.
Ob sich Vincent van Gogh tatsächlich selbst in die Brust schoss, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Falls er es aber getan hat, dann möglicherweise mit einem Revolver, der 1960 auf dem Feld gefunden wurde, über das Van Gogh am 27. Juli 1890 ein letztes Mal gegangen war. Das Kaliber, sieben Millimeter, würde zu der Kugel passen, die in seinem Körper steckte. Auch die geringe Feuerkraft der Waffe scheint plausibel: Die Kugel bohrte sich nämlich nicht tief in den Körper ein. Sie prallte stattdessen an einer Rippe ab und wanderte von dort in den Bauchraum. So konnte oder wollte sie der herbeigerufene Arzt Paul Gachet nicht entfernen. Die geringe Feuerkraft würde zudem erklären, warum van Gogh an seinen Verletzungen nicht sofort starb, sondern erst nach gut 30 Stunden.
„Ich wollte, es wäre nun zu Ende.“
So konnte sich Vincents Bruder Theo noch von ihm verabschieden. Theo van Gogh war früh am 28. Juli von Paris ins 30 Kilometer entfernte Auvers-sur-Oise gefahren, wo er den Sterbenden friedlich und Pfeife rauchend in seinem Bett vorfand. Die beiden blieben zusammen, bis Vincent am 29. Juli starb. Seine letzten – überlieferten – Worte: „Ich wollte, es wäre nun zu Ende.“
Damit schien alles gesagt. Ein Lebensmüder hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Doch Vincent van Gogh hatte die schlimmsten Monate eigentlich schon hinter sich, war wieder zu Kräften gekommen. Im Oktober 1888 hatte er sich im Wahn sein linkes Ohr abgeschnitten (oder hatte es ihm Paul Gauguin etwa mit einem Säbel abgeschlagen?), danach folgten für den offensichtlich psychisch kranken und depressiven Künstler Aufenthalte in Krankenhaus und Nervenheilanstalt. Erst im Frühjahr 1890 kam van Gogh wieder frei: Der Arzt Gachet, der sich als Freund der Kunst verstand und unter anderen Paul Cézanne und Claude Monet kannte, erklärte sich bereit, sich in Auvers-sur-Oise um van Gogh zu kümmern. Dort kehrte wieder Ruhe in das Leben des 37 Jahre alten Künstlers ein.
Und dennoch soll er sich umgebracht haben. Warum? Eine Erklärung könnte sein, dass er es gut mit seinem Bruder und dessen Familie meinte. Im Juli 1889 war das Gemälde „Angelusläuten“ von Jean-François Millet für eine halbe Million Francs versteigert worden, zu seinen Lebzeiten hatte der französische Maler gerade einmal 1000 Francs dafür bekommen. In seinem Abschiedsbrief schreibt Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo, den bisher wenig erfolgreichen Kunsthändler, vom großen Anteil, den der Jüngere an seinem Schaffen und seinen Bildern habe. Und davon, dass es im Augenblick eine sehr gespannte Lage gebe „zwischen Händlern mit Bildern toter Künstler und Händlern mit Bildern lebender Künstler“. Sein Tod, so hoffte Vincent van Gogh womöglich, würde seinen Bruder von allen Sorgen und finanziellen Nöten befreien. Das glaubte der bisher weitgehend brotlose Künstler wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil er vor seiner Zeit in Auvers-sur-Oise trotz aller Widrigkeiten in knapp 16 Monaten 187 Gemälde fertiggestellt hatte.
Griff Vincent van Gogh also aus Liebe zu seinem Bruder, aus Pflicht- oder Schuldgefühl gegenüber dem vier Jahre jüngeren Theo zum letzten Mittel und dem Revolver? Oder war es doch eher ein Unfall oder vielleicht sogar ein Mord? Zwei Jungen könnten, ob absichtlich oder nicht, van Gogh angeschossen haben, mit einem Revolver, der ihnen gehörte, wie einer der beiden, René Secretan, später zugab. Der Maler aber habe ihn ihnen gestohlen, sie selbst seien an dem Abend auch gar nicht in Auvers-sur-Oise gewesen.
Woher die Waffe stammte, mit der van Gogh tödlich getroffen wurde, konnte bis heute nicht zweifelsfrei geklärt werden. Die vielen Wenns und Abers, die sich um den verrosteten Lefaucheux-Revolver ranken, dürften auch der Grund sein, warum das Auktionshaus Drouot in Paris den eher bescheidenen Schätzpreis von 40.000 bis 60.000 Euro für die Waffe zugrunde legt. Der „mutmaßliche Suizidrevolver“ soll am kommenden Mittwoch versteigert werden. Seine Provenienz aber ist dürftig, viel weniger überzeugend als bei anderen zeithistorischen Waffen. Der Smith-&-Wesson-Revolver etwa, mit dem der amerikanische Bandit Jesse James 1888 erschossen wurde, was sich fast lückenlos beweisen lässt, sollte 2013 bei einer Versteigerung in Dallas geschätzte 1,6 Millionen Dollar bringen. Doch der Revolver wechselte nicht seinen Besitzer.
Vincent van Gogh ist heute Millionen wert. Das „Porträt des Dr. Gachet“, das der Niederländer kurz vor seinem Tod gemalt hatte, erzielte bei einer Auktion 1990 mehr als 80 Millionen Dollar. Theo van Gogh jedoch brachte der vorzeitige Tod des Bruder nichts ein: Er starb ein halbes Jahr nach Vincent wohl an den Folgen einer Syphiliserkrankung. Vincent und Theo liegen heute Seit’ an Seit’ auf dem Friedhof in Auvers-sur-Oise.