Politik

70 Jahre Grundgesetz: Eine Aufforderung zum Unruhestiften

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Das Verfassungsrecht als Vertreterin des Rechts wacht über die Verfassung.

Das Grundgesetz ist nicht nur Fundament staatlicher Ordnung, sondern vor allem ein Hort der Freiheit. Um die Grundrechte mit Leben zu füllen, muss die Zivilgesellschaft ihren Widerspruchsgeist kultivieren. Ein Gastbeitrag.

Das Grundgesetz feiert seinen 70. Geburtstag, und ganz Deutschland feiert das Grundgesetz. Unzählige Sonderbeiträge erzählen in diesen Tagen noch einmal seine Entstehungsgeschichte und befassen sich mit seiner Zukunftstauglichkeit. Jedes der Grundrechte wird vorgestellt und erläutert, eine neue Art von Heldenportraits entsteht.

Über die Liebe der Deutschen zum Grundgesetz ist bereits zu früheren Jubiläen viel geschrieben worden. Auch wem bei Leitkulturdebatten und Deutschlandfähnchen am PKW des Nachbarn unwohl wird, kann mit gutem Gewissen so etwas wie Stolz auf unsere Verfassungsordnung empfinden. Denn das Grundgesetz steht für ein politisch stabiles Deutschland, das in Frieden mit seinen europäischen Nachbarn lebt. Für ein demokratisches Deutschland, das ganz unterschiedlichen Menschen eine Heimat und den Freiraum für ihre Lebensentwürfe bietet. Einst lediglich als Provisorium gedacht, um – wie es in der Präambel ursprünglich hieß – dem „staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“, mag sich heute kaum jemand ausmalen, was nach dem Grundgesetz kommen könnte. Und wenn in diesen Tagen gegenüber den Festakten zu Ehren der Verfassung der zeitgleiche Geburtstag der Bundesrepublik selbst in den Hintergrund tritt, dann spiegelt sich darin auch ein gewandeltes Verständnis, in welchem Verhältnis Staat und Recht zueinander stehen: Die Verfassung kann zwar geändert, eine andere Verfassung erlassen werden. Zumindest die im Grundgesetz niedergelegten Grundrechte und Kernprinzipien der politischen Ordnung gehen dem Staat in legitimatorischer Hinsicht aber voraus.

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Wer über das Grundgesetz spricht, kann über das Bundesverfassungsgericht nicht schweigen. „Karlsruhe“ genießt in der Bevölkerung von allen staatlichen Institutionen seit Jahrzehnten das höchste Ansehen und gilt als verlässlicher Seismograph der Rechtsstaatlichkeit unseres Staatswesens. Der Geburtstag des Grundgesetzes wird daher gern zum Anlass genommen, an die Leitentscheidungen zu erinnern, in denen das Bundesverfassungsgericht den Grundrechtsschutz ausgestaltet und an neue Herausforderungen angepasst hat. An das Lüth-Urteil etwa, in dem Karlsruhe feststellte, dass die Grundrechte nicht nur das Verhältnis von Staat und Bürger bestimmen, sondern auch zwischen Privatpersonen wirken, weil sie für die Auslegung von Gesetzen zu berücksichtigen sind. Oder an das Volkszählungsurteil, in dem das Gericht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung „erfand“.

Die herausragende Rolle des Bundesverfassungsgerichts für die Ausgestaltung unserer Verfassungsordnung lässt sich nicht bezweifeln. Leicht gerät aber in Vergessenheit, dass es viele seiner grundlegenden Entscheidungen nicht gegeben hätte ohne Bürgerinnen und Bürger, die bereit waren, für ihre Rechtsauffassungen zu streiten. Ohne Erich Lüth kein Lüth-Urteil, ohne Gisela Wild und Maja Stadler-Euler kein Urteil zur Volkszählung.

Am Anfang ihres Weges zum Bundesverfassungsgericht stand die Überzeugung, dass die geltenden Gesetze oder ihre Anwendung durch Verwaltung und Gerichte hinter dem zurückbleiben, was das Grundgesetz uns an Freiheiten und Möglichkeiten der Teilhabe in Aussicht stellt. Ihr Beispiel zeigt: Das Grundgesetz ist kein Ruhekissen! Die Wirklichkeit unserer verfassungsmäßigen Rechte reicht nur so weit, wie wir sie einfordern, nutzen und verteidigen, immer wieder und aufs Neue. Die Unzufriedenheit einzelner mit den gegenwärtigen Zuständen, ist unverzichtbar, um die Grundrechte mehr werden zu lassen als einige eindrucksvolle Sätze. Die wegweisenden Impulse setzen dabei nicht diejenigen, die sich im Einklang mit der Mehrheit wissen. Die Mehrheit braucht keine Grundrechte. In einer Demokratie kann sie ihre Vorstellungen regelmäßig durchsetzen, eben weil sie in der Mehrheit ist. Wer das Glück hat, stets Teil dieser Mehrheit zu sein, wird daher vielleicht nie die Notwendigkeit sehen, sich auf seine Grundrechte zu berufen. Die Grundrechte sind vor allem die Rechte derjenigen, die anders sind oder aussehen, die anders leben wollen oder anders behandelt werden, warum auch immer.

Unser Grundgesetz bedarf derjenigen, die sich an den bestehenden Verhältnissen stoßen, die sich ungerecht behandelt fühlen und die nach Wegen suchen, diese subjektiv empfundenen Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Die Störenfriede und Unruhestifterinnen – sie leisten der Allgemeinheit einen kostbaren Dienst. Ohne ihr Renegatentum und ihre Lust am Widerspruch trocknet das Grundgesetz aus, ohne ihre Herausforderung der herrschenden Vorstellungen verkümmert es wieder zu einem Text ohne Leben.

Besorgniserregend sind daher Tendenzen, die darauf abzielen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Zusammenschlüsse einer engmaschigen Loyalitätskontrolle zu unterwerfen und so Freiräume für non-konformes Verhalten zu beschränken. Wer das Steuerrecht dazu nutzen will, um unliebsamen Einspruch gegen die zu Recht geronnenen Auffassungen der Mehrheit zu unterbinden, leistet unserer Verfassungsordnung einen Bärendienst. Im wohlverstandenen Eigeninteresse eines freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens liegt es vielmehr, die Bereitschaft zu solchem Engagement anzuregen und zu fördern.

Grundrechte, das wird in den Festtagsreden gerne verschwiegen, sind anstrengend. Aus der Sicht der Mehrheit bedeuten sie die Zumutung, immer wieder Rücksicht auf andere nehmen zu müssen, obwohl es doch eigentlich ganz einfach und viel effektiver ginge. An uns alle richten die Grundrechte die Aufforderung, unseren Sinn für den Wert der dort verbürgten Freiheiten zu bewahren, und streitbar zu sein, wenn wir sie gefährdet sehen. Gerade dann, wenn wir uns damit in Widerspruch zu der herrschenden Auffassung begeben. Ein Feiertag ist der 70. Geburtstag unserer Verfassung nur solange, wie wir bereit sind, nicht nur den staatstragenden Teil des Grundgesetzes, sondern auch seine subversive Botschaft anzuerkennen und zu ertragen: Das Grundgesetz – es ist auch eine Aufforderung zum Unruhestiften!