Warum trifft es uns so, wenn ein historisches Gebäude brennt? Eine Kulturwissenschaftlerin erklärt, warum Notre-Dame so ikonisch aufgeladen ist – und woher die Verschwörungstheorien um den Brand rühren.
Frau Horstkotte, als Notre-Dame am Montagabend brannte, standen die Pariser scharenweise auf den Straßen, schauten fassungslos zu. Warum hat das die Menschen so berührt?
Die Zerstörung solch ikonischer Bauwerke, die stark mit Bedeutung aufgeladen sind, ist zunächst einmal visuell sehr eindrucksvoll. Da spielt auch Schaulust eine Rolle, das kennt man von anderen Unfällen. Diese besonders eindrucksvollen Bilder wecken aber besonders starke Emotionen. Die identitätsstiftende Wirkung der Kathedrale Notre-Dame für die Pariser, die französische Nation und für Europa ist dabei auch wichtig.
Inwiefern stiftet so eine Kirche denn eine kollektive Identität?
Kirchen im Allgemeinen bilden schon rein optisch oft den Mittelpunkt einer Stadt und sind wichtig für die Identität des Ortes. Wenn die Kirche dann noch besonders alt und bekannt ist, verstärkt sich das. Bei Notre-Dame spielt aber auch noch die nationale Dimension eine Rolle: Die großen französischen Kathedralen gehören dem Staat Frankreich, so auch Notre-Dame. Die Kathedrale gehört also zum nationalen Erbe.
Und Notre-Dame ist besonders bekannt.
Genau, und wird auch besonders häufig abgebildet. Das hat man ja in den sozialen Medien gesehen, dass alle Leute plötzlich ihre alten Bilder posteten, jeder hat seine eigenen Notre-Dame-Bilder parat. Die Kirche ist zusätzlich durch viele Filme bekannt, aber auch durch Gemälde und Literatur, in Deutschland etwa durch Gedichte von Rilke und Benn. Hinzu kommt der Kulturschatz dieser Kirche. Ob jetzt die Orgel besonders betrauert wird, oder ob man sich große Sorgen um die Glasfenster macht – es beschäftigt uns. Außerdem stiftet die Kirche einen Zugang zur Vergangenheit, sie ist ein Gedächtnisort.
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Ein Gedächtnisort?
Das sind Orte, die eine kollektive Erinnerung besonders stark verkörpern und die für kollektive Mythenstiftung eine Rolle spielen, in diesem Fall: die französische nationale Identität. Das gab es in diesem Fall im positiven und im negativen Sinn.
Was war denn der negative Fall?
Es wurden sehr schnell Verschwörungstheorien oder -mythen artikuliert, etwa in den sozialen Medien. Die Vorstellung von „Eurabia“ und dass sich da jetzt irgendwelche Islamisten drüber freuen würden.
Der Untergang „unseres Europas“.
Das ist insgesamt in der Neuen Rechten ein stark vertretenes Narrativ, in Frankreich sehen wir das besonders stark. Es gibt die Angst vor dem sogenannten Bevölkerungsaustausch nach Renaud Camus, das ist in Frankreich eine sehr gängige Vorstellung. Das kennen wir zum Beispiel aus Michel Houllebecqs „Unterwerfung“. Im Roman steht die Schwarze Madonna für ein reinrassiges, weißes, homogenes, katholisches Frankreich, das betrauert wird.
Weil es dieses Frankreich so nicht mehr gibt?
Genau, das sind Verlustängste, das ist kulturelle Unsicherheit. Die Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität spielt ebenfalls eine Rolle.
Ein Journalist sammelte arabische Reaktionen auf den Brand, einige schrieben „Allahu Akbar“, das ordneten wiederum manche User als Freudenausdrücke ein.
Die Fehleinschätzung der arabischsprachigen Tweets, die Trauer oder Unbehagen ausdrücken sollten, war sehr tendenziös, nach dem Motto: Die freuen sich, wenn unsere Kirche abbrennt. Das sehe ich sehr kritisch.
In Katastrophenfilmen kippt ja oft als Erstes die Freiheitsstatue um, oder der Petersdom bricht zusammen. Warum symbolisieren diese Gebäude für uns den Weltuntergang?
Gerade sehr alte Gebäude symbolisieren eine gewisse Permanenz. Wenn sie untergehen, werden wir mit unserer eigenen Vergänglichkeit konfrontiert und mit der unserer Kultur. Alles kann sich ändern. Das ist im Moment besonders präsent, es gibt eine Konjunktur von Apokalypse-Filmen, schon seit etwa zwanzig Jahren. Wir leben in einer Zeit, die eine sehr starke Vergangenheitsorientierung hat und eine schwache Zukunftsorientierung. Fortschrittsnarrative haben mit dem Ende des Kalten Kriegs ihr Potential verloren. Auch angesichts des Klimawandels gibt es diese Vorstellung: Wir leben in einer Endzeit! Da hat so eine Zerstörung von etwas, das es vielleicht nie wieder geben wird, eine hochemotionale Wirkung. Wenn dann in der Realität so etwas passiert, werden diese Untergangsvorstellungen aktiviert. Und das ist in Frankreich besonders schlagkräftig: Da gilt der Katholizismus als besonders umstrittener und gefährdeter Identitätsanker. Da gibt es den schönen Ausdruck des Zombiekatholizismus.