
Sechs Fraktionen sitzen im Bundestag, de facto stehen zwei davon, die Linke und die AfD, für eine Regierungsbildung nicht zur Verfügung. Deutschland braucht ein Wahlsystem, das zum veränderten Parteiensystem passt. Ein Gastbeitrag.
Seit der Bundestagswahl 2017 sitzen sechs Fraktionen im Deutschen Bundestag, von denen zwei, Die Linke und die AfD, für die Regierungsbildung (faktisch) nicht zur Verfügung stehen. Von dieser Konstellation ist auch in Zukunft auszugehen. Mittelfristig kann weder mit einem Verschwinden noch mit einer Koalitionsfähigkeit von AfD und Linken gerechnet werden.
Dies hat Auswirkungen auf die Regierungsbildung: Die langerinternen Bündnisse Schwarz-Gelb und Rot-Grün haben kaum noch Chancen auf eine Mehrheit. Entfallen rund 20 Prozent der Stimmen auf nicht koalitionswillige beziehungsweise -fähige Parteien, müsste im Wettbewerb von Mitte-Rechts und Mitte-Links das eine Lager das andere 50 zu 30 schlagen. Ein solcher Kantersieg ist wenig wahrscheinlich. Stattdessen werden lagerübergreifende Koalitionen immer mehr zur Regel, wobei eher drei als zwei Partner benötigt werden.
Dadurch gerät das Verhältnis der drei klassischen Ziele von Parteien – Regierungsmacht, Programmverwirklichung und Wählerstimmen – aus dem Gleichgewicht. Die Lagerkoalitionen erlaubten den Parteien, ihre Programme mit nur geringen Abstrichen zu realisieren und auf dieser Grundlage ihre Anhänger zu motivieren, auch bei der nächsten Wahl wieder für sie zu stimmen.
Parlament braucht regierungswillige Parteien
Die lagerübergreifenden Koalitionen bedeuten dagegen mindestens ebenso viel Programmverwässerung wie -verwirklichung- sie schädigen die Markenkerne der beteiligten Parteien und frustrieren deren Anhänger. Weniger Programmdurchsetzung, weniger Stimmen – das können auch Ministersessel nicht mehr unbedingt kompensieren. Das gilt umso mehr, da zunehmend die Parteibasen bei der Regierungsbildung mitmischen, für die Ministersessel weniger attraktiv sind als für die hochrangigen Parteimitglieder mit persönlichen Ambitionen hierauf.
Dass manche Parteien lieber nicht regieren wollen als „falsch“, ist insofern nachvollziehbar, und mitnichten illegitim: Die Wahlzulassung setzt nur den Wunsch nach parlamentarischer Vertretung voraus, nicht die Beteiligungsbereitschaft an einer – und erst recht nicht: jedweder – Regierung. Zugleich hängt das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie aber davon ab, dass sich im Parlament in ausreichender Zahl Parteien finden, denen das Regieren als hinreichend reizvolle Perspektive erscheint.
Am stärksten leidet unter der derzeitigen Gemengelage die SPD, die mangels eigener Machtperspektive nicht zu mobilisieren vermag und für ihre unter großen Mühen aufgebrachte Bereitschaft, sich als Juniorpartner in die Pflicht nehmen zu lassen, nicht belohnt wird. Aber auch die anderen konstruktiven Kräfte des Parteiensystems können dauerhaft kein Interesse an der gegenwärtigen Konstellation haben.
Änderung des Wahlsystems
Das gilt selbst für die CDU, die mit ihrer seit 2009 verfolgten Strategie, den gegnerischen Anhängern bloß keine Angriffsfläche zu bieten, selbst wenn die inhaltliche Vagheit auch eigene Anhänger vergrault, zur unangefochtenen Nummer eins im Parteiensystem avanciert ist. Selbst innerhalb der einzigen Partei, die im Koalitionsfindungsprozess 2017/18 unter den drei Parteizielen die Regierungsmacht klar an erste Stelle setzte, herrscht eine große Sehnsucht nach Profilschärfung. Die Begeisterung, die Friedrich Merz‘ Kandidatur für den Parteivorsitz an der Basis auslöste, zeigt dies deutlich.
