Essen & Trinken

Und der Zukunft zugewandt

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Am ungemütlichen 51. Breitengrad wird seit tausend Jahren mit schwankender Intensität Wein angebaut. Aus einem semiprofessionellen Nebenerwerbsbetrieb ist hier ein stattliches Familiengut erwachsen, das exemplarisch die Wiederauferstehung des Weinbaugebiets Saale-Unstrut verkörpert.

Die Weinbauregion Saale-Unstrut hat eine turbulente Geschichte hinter sich. Doch seit der Wende geht es dort konstant aufwärts – dank Winzern wie der Familie Zahn.

Wie lange dauert es, aus einem Schnapsdrosselvolk eine Weintrinkernation zu machen? Eine Generation genügt schon einmal nicht, dafür sind die ostdeutschen Nachfolgeländer der Deutschen Demokratischen Republik ein hochprozentiger Beweis. Vierzig Jahre sozialistisches Spirituosenparadies lassen sich nicht einfach abschütteln: Sagenhafte sechzehn Liter Schnaps schütteten die Bewohner der DDR 1987 statistisch pro Kopf in sich hinein, mehr als alle anderen Erdenmenschen, wobei sie sich die miserable Qualität ihrer Gesöffe mit realsarkastischem Humor schöntranken – der berüchtigte Billigwodka „Juwel“ wurde wegen der Farbe des Flaschenetiketts „Blauer Würger“ genannt, während der beliebte „Trinkbranntwein für Bergarbeiter“ allseits nur als „Kumpeltod“ oder „Grubenfusel“ bekannt war. Im trostlosen Mangelwirtschaftsweinregal standen hingegen nur halbtrockene oder liebliche Schauerlichkeiten aus Ungarn und Bulgarien, die mit Slogans wie „Trinke nicht wahllos – greife zum Wein“ angepriesen wurden.

Manchmal indes ändert sich innerhalb einer Generation alles. Dafür ist die Winzerfamilie Zahn aus Großheringen an der Grenze Thüringens zu Sachsen-Anhalt der beste Beweis. Vater Hartmut arbeitete beim volkseigenen Weingut Kloster Pforta, dessen Gewächse nicht auf Arbeiter- und Bauern-, sondern auf Wandlitzer Bonzentischen landeten, und konnte nur nebenbei ein paar Rebstöcke für den Eigenbedarf hegen, weil Privatweingüter in der DDR verboten waren. Nach dem Ende der sozialistischen Vorhölle aller Weinliebhaber wurde ihm das zwangsverstaatlichte Land der Familie zurückgegeben, woraufhin er nicht Schwerter zu Pflugscharen, sondern Kartoffeläcker in Weinberge verwandelte.

Familiengut auf zwölf Hektar

Im Jahr 1994 pflanzte Zahn die ersten Stöcke, vier Jahre später konnte er seinen Premierenjahrgang keltern und wiederum achtzehn Jahre später das Gut an seine Kinder übergeben. Denn mit Schnaps haben sie schon aus biographischen Gründen nichts am Hut: André Zahn ist gelernter Kellermeister und Winzer, während seine Schwester Elvira Weinbetriebswirtschaftslehre studiert hat. Und auch das dritte Kind Annett ist Weinbäuerin, doch sie ist von einem Pfälzer Winzer weggeschnappt worden.

Aus einem halben Hektar Fläche sind inzwischen zwölf geworden, und aus einem semiprofessionellen Nebenerwerbsbetrieb ist ein stattliches Familiengut erwachsen, das exemplarisch die Wiederauferstehung des Weinbaugebiets Saale-Unstrut verkörpert. An diesen beiden stillen, unaufgeregten Flüsschen, die am ungemütlichen 51. Breitengrad zwingend notwendige Wärmespeicher für die Trauben sind, wird seit tausend Jahren mit schwankender Intensität Wein angebaut.

Enthusiasten ohne Erblasten

Bis zum Dreißigjährigen Krieg standen zehntausend Hektar unter Reben, nach dem Reblaus-Inferno 1887 waren es keine hundert mehr, in der DDR herrschte sowieso vinifikatorische Tristesse. Inzwischen werden wieder knapp achthundert Hektar bewirtschaftet, mit steigender Tendenz. Denn Qualitätswinzer wie die Familie Zahn, wie Uwe Lützkendorf, Bernard Pawis, Matthias Hey oder Andreas Clauß vom Thüringer Weingut Bad Sulza, allesamt Enthusiasten ohne Erblasten, haben dem Wein von der Saale und der Unstrut neues Leben eingehaucht.

Eine überzeugte Weintrinkergeneration haben sie in Thüringen und Sachsen-Anhalt noch nicht erschaffen können. Das backsteinerne Weingut der Zahns, das idyllisch an der Saale liegt, versteht sich als pädagogische Anstalt zur Förderung des Weingenusses mit angeschlossenem Restaurant samt Veranstaltungskalender. Bei Liederabenden und Mondscheinfahrten wird das Grundwissen des Weinbaus erklärt, bei Raritätenproben die Bandbreite der Gewächse aufgefächert und bei Massenspeisungen inmitten der Weinstöcke der kultivierte Weingenuss zelebriert.

Schwierige Vegetation

Nördlicher als die Saale-Unstrut-Region liegt kein anderes deutsches Weinbaugebiet. Das macht den Zahns das Leben nicht leicht. Sie müssen mit einer kurzen Vegetationsperiode von Ende April bis Mitte Oktober zurechtkommen und immer wieder mit extremen Kältespitzen von bis zu minus zwanzig Grad rechnen, die kaum ein Weinstock überlebt. Doch sie haben auch das Glück, in einer der niederschlagsärmsten Gegenden Deutschlands zu leben. Durch die Trockenheit diffundieren die Fruchtaromen nicht aus den Trauben, die deswegen ein opulentes Bouquet entwickeln und gar nicht nach der Kargheit des Nordens schmecken.

Ihre Lagenweine, vor allem der Riesling und der Weißburgunder, sind filigrane Wesen mit Selbstbewusstsein und ohne anämische Blässe, dafür sorgen die charaktervollen Böden aus Muschelkalk und Keuper. Ihr Musacaris, eine Kreuzung aus Gelbem Muskateller und der Sorte Solaris, duftet fast schon wie ein Lavendelfeld an der Côte d’Azur. Und der Blaue Zweigelt aus dem Barrique ist so dicht und temperamentvoll, als komme er von den Flanken des ätnas und nicht aus Deutschland. Wer danach immer noch Lust verspürt, den eher als Abfallprodukt denn als Herzensangelegenheit destillierten Tresterbrand aus dem Hause Zahn zu kosten, hat noch einen langen Weg vom Schnapstrinker zum Weingenießer vor sich.