
Der Schweizer Modemacher Albert Kriemler hat der 101 Jahre alten Künstlerin Carmen Herrera seine Kollektion für das nächste Frühjahr gewidmet. Gespräch über eine besondere Inspiration.
Herr Kriemler, seit Yves Saint Laurents Mondrian-Kleid lassen sich Modemacher gerne von moderner Kunst anregen. Wie kamen Sie für Ihre Frühjahr-Sommer-2017-Kollektion ausgerechnet auf Carmen Herrera, die große Unbekannte der amerikanischen Kunst?
Ich war 2015 im damals neu eröffneten Whitney Museum of American Art in Manhattan. Da hing neben den Klassikern der Nachkriegskunst ihr „Blanco y Verde“ …
… eigentlich nur ein Gemälde mit langschenkligem flachem grünem Dreieck vor weißem Hintergrund, sogenannter geometrischer Minimalismus.
Das Bild faszinierte durch Proportionen und Farbgebung und hat mich ungemein beeindruckt, zumal ich von der Künstlerin noch nie etwas gehört hatte.
Carmen Herreras Werk „Blanco y verde“
Das Bild hat Sie nicht in Ruhe gelassen.
Ich vergesse es nie mehr. Über die Londoner Galerie Lisson habe ich den Kontakt zu Carmen Herrera gesucht. Auf Vermittlung des Galeristen konnte ich sie im Frühjahr in ihrer Atelierwohnung an der 19. Straße in New York besuchen – ausgerechnet am 31. Mai, ihrem 101. Geburtstag, was ich nicht wusste. Am nächsten Tag war ich noch einmal bei ihr, um ihr frühere Kollektionen zu zeigen, die ich in Zusammenarbeit mit dem Künstler Thomas Ruff und dem Architekten Sou Fujimoto entworfen hatte.
Und dann haben Sie gefragt, ob Sie ihre Werke als Inspiration für die Kollektion nehmen könnten?
Ja. Und sie hat zugestimmt: „Mit großer Freude, ich fühle mich geehrt.“ Im Juli habe ich ihr Stoffe, Farben und Skizzen vorgelegt. Sie hat dann gesagt, welche ihr gefallen und welche nicht. Es war durchaus anspruchsvoll, ihre minimalistische Kunst in einer Kollektion umzusetzen.
Carmen Herrera arbeitet in ihrem Wohnatelier in Manhattan weiter an ihren Kunstwerken. Ihre Ausstellung im Whitney-Museum ist noch bis zum 2. Januar 2017 zu sehen.
Schon deshalb, weil Kunst zweidimensional und Mode dreidimensional ist?
Ja. Wenn man Plissees verwendet, und das tue ich in der Kollektion, ist es schon kein flaches Tableau mehr. Auch das lasergeschnittene Leder und die Stickereien fügen den Kleidern visuell eine dritte Dimension hinzu. Man kann und will es nicht genau so übertragen. Es ist eine Inspiration. Also bot sich wiederum ihr malerisches Verfahren als Vorbild an. Sie komponiert nicht nach dem goldenen Schnitt oder malt Geometrie, sondern hat einen ganz freien Strich, auch wenn er mit dem Lineal gezogen ist.
So haben Sie es dann auch gehalten?
Ja, es ist eine freie Interpretation, immer mit Respekt vor dem Bild. Aber ich habe schon darauf geachtet, wie man zum Beispiel „Blanco y Verde“ so umsetzt, dass man das lange grüne Dreieck auch als solches erkennt: Leder war zu steif, Georgette zu weich, aber ein synthetisches Gewebe, das mit Laser geschnitten werden kann, war dann das Richtige.
Albert Kriemler hat der Dame seine neue Kollektion gewidmet.
Sie haben eine lange Beziehung zu New York, verkaufen Ihre Mode in einem eigenen Akris-Geschäft an der Madison Avenue und auch bei Bergdorf Goodman und Saks Fifth Avenue. Zum ersten Mal haben Sie im September Ihr Akris-Defilee bei der New York Fashion Week gezeigt statt in Paris. Auch wegen der Künstlerin?
Ja, und weil mir zwei Tage zuvor der „Couture Council Award“ des Fashion Institute of Technology verliehen wurde und ich mich für die Zuneigung der Amerikaner bedanken wollte. Leider konnte Carmen Herrera nicht zur Schau kommen. Kurz danach war die Eröffnung ihrer großen Retrospektive im Whitney Museum, und in ihrem Alter verlässt sie die Wohnung nur selten. Von der Akris-Schau, die sie im Video sah, war sie begeistert.
Nach all den Jahren tut ihr vermutlich die Aufmerksamkeit gut.
Ja. Sie hat lange genug warten müssen, bis sie endlich als Künstlerin von Rang entdeckt und anerkannt wurde – da war sie schon in ihren Neunzigern.
