Medizin

Krebs ist der Feind, und der Feind soll zittern

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Am Wochenende ging der der Deutsche Krebskongress zu Ende. Tausende Onkologen kamen. Was können sie noch bewirken? Das massenhafte Leid vermehrt sich, das Gegenkonzept heisst jetzt „iKon“.

„Um jeden Tumor herum gibt es einen Patienten“: kein ganz unwichtiger Hinweis auf der Krebsstation. Ein Arzt hat den denkwürdigen Satz auf einen Zettel notiert und auf dem Schreibtisch zurück gelassen. Michael Hallek, Chefonkologe an der Universitätsklinik Köln, hat ihn entdeckt und den Merksatz mit in die Berliner Messe-Süd gebracht, wo sich in dieser Woche Tausende Krebsmediziner und -forscher auf ihrem Jahreskongress treffen, um sich so etwas wie einen Schwarmgeist abzuholen.

Es geht um eine neue Illusion: den größten und gewiss boshaftesten natürlichen Feind unserer Unverwundbarkeitsphantasien niederzuringen. Der Krebs ist in dieser Hinsicht gnadenlos – jeder Zweite von uns muss damit rechnen, früher oder später an einem Tumor zu erkranken, jeder vierte Mann und jede fünfte Frau sterben den Tod durch Krebs. Nicht erst, seit die Weltgesundheitsorganisation kürzlich eine Schockwelle durch die Medien geschickt und die Prognosen für die Krebshäufigkeit von heute vierzehn Millionen Patienten auf 21 Millionen im Jahr 2030 taxiert hat, spüren alle diese Ohnmacht. Jeder kennt in seinem persönlichen Umfeld Opfer. Aus der stillen Krankheit, an der die Menschen nachgewiesenermaßen seit mehr als viertausend Jahren herumdoktern und verzweifeln, ist ein lautes Leiden, eine öffentliche Geißel geworden.

Genauso laut und sichtbar will die Krebsmedizin dagegenhalten. Wer sie beobachtet, wie sie über den Krebs sprechen und was sie aufbieten, die Schulmediziner und Alternativheiler, die Pharmakologen und die Genforscher, der kann nur zu einem Schluss kommen: Die Menschheit ist im Widerstand. Und der Widerstand wächst. Man hat sich vorgenommen, den Krebs zu besiegen. Keiner sagt das heute mehr so, denn keiner will in die Fußstapfen des amerikanischen Präsidenten Nixon und seines Kongresses treten, die vor vierzig Jahren mit dem Sieg über den Krebs geprahlt haben, so dass sich noch zwei Generationen nachher die Onkologie als Wortbrecher verteidigen muss.

Aber alle im Heilgewerbe machen sich solche Gedanken, viele schüren Hoffnungen. Der Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, Wolff Schmiegel, einer der angesehensten Tumorexperten im Land, peitscht seine Widerstandstruppen dazu auch gerne mal auf: Er spricht in Berlin wieder und wieder vom „Tsunami an Krebserkrankungen“, der über die Menschheit rollt, von Krebszunahmen sogar bei Kindern und von den 126 Milliarden Euro Krankheitskosten, die Europa im Jahr an Reparaturzahlungen und Rüstungsausgaben aufzubringen habe.

Die Größe der medizinischen Aufgabe, das ist unbestreitbar, hat die Gesellschaften und die Politik durchdrungen. Der Nationale Krebsplan in Deutschland etwa, ein von Forschungs- und Förderorganisationen vor sechs Jahren angestoßenes und dem Bundesministerium durch einen „gesundheitspolitischen Umsetzerkreis“ willig befördertes Projekt, wird die nächsten Jahre Dutzende Millionen Euro aus den gesetzlichen Kassen benötigen, bis man erkennen kann, ob die lückenlose Datenerfassung jeder Krebskrankengeschichte in Krebskregistern und die immer stärker ausgebauten Früherkennungsprogramme den erhofften Nutzen bringen.

Aber genauso ist jedem der kampfbereiten Krebsmediziner längst auch klar: Die Größe der Aufgabe wächst mit jedem Wissen ein Stück mehr. Alles wird komplizierter, und der Blick zurück ist geeignet, bei den onkologischen Kriegsherren einen kalten Schauer hervorzurufen. Als Rudolf Virchow mit den Anfängen seiner Zellularpathologie in Berlin die Grundlagen für die heute vorherrschende naturwissenschaftliche Lehre legte (Ende des neunzehnten Jahrhunderts), waren als Todesursachen 44 Krankheiten bekannt. Im Jahr 1900 waren es 174 Indikationen, zur Jahrtausendwende führte der ICD-10-Code der Ärzte 68 000 Krankheiten, 2012 sind wir bei 120 000 unterschiedlichen Diagnosen. Und das pathologische Dickicht wuchert in der Onkologie besonders stark: Mehr als zweihundert Krebsarten werden heute formal unterschieden, doch die Entschlüsselung der Krebsgenome hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass buchstäblich jeder Patient, vermutlich sogar jeder einzelne Tumor im Körper, eigene „genetische Signaturen“, sprich: krankmachende Mutationen aufweist.