
Warum kam es im Sommer 2012 zu dem Transplantationsskandal, der von den Medien aufgedeckt wurde? Ein Buch aus dem Jahr 1996 zeigt: Die Krise war vorhersehbar.
Vor der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes im Jahr 1997 wurde um die Vergaberegeln für Organe und die Strukturen der Transplantationsmedizin gerungen. Rückblickend zeichneten sich die aktuellen Probleme schon damals ab: Mediziner und Juristen blieben unter sich, eine gesellschaftliche Diskussion über ethische Kriterien der Organverteilung fand nicht statt- vielmehr wurde versucht, sie rein medizinisch zu begründen. Und die Politik zog sich aus ihrer Verantwortung für das heikle Thema zurück.
Das Thema Organvergabe und ihre Kontrolle steht im Mittelpunkt des Transplantationsskan-dals, der im vergangenen Jahr von den Medien aufgedeckt worden ist: Ärzte haben Patientendaten manipuliert, um mehr Spenderorgane zu transplantieren. Inzwischen haben sich die Wogen einigermaßen geglättet. Die Aufarbeitung läuft und erste Maßnahmen sind umgesetzt: Betroffene Kliniken haben Mitarbeiter suspendiert oder entlassen, die Strafverfolgung ist aktiv. Verschärfungen des Transplantationsgesetzes, mehr Kontrollen und die Ertüchtigung der Kontroll- und Prüfkommissionen der Bundesärztekammer sollen künftig Manipulationen bei der Organvergabe verhindern. Für jedermann einsehbar sind die Prüfberichte der Lebertransplantationszentren nach Visitation durch die Kontrollkommission der Bundesärztekammer im Internet veröffentlicht worden. Das angeschlagene Vertrauen hofft man durch Werbekampagnen und mehr Transparenz wieder herzustellen – im Interesse der rund 11.000 Patienten in Deutschland, die auf ein Organ warten.
Die grundlegende Frage, wer nach welchen Regeln in Deutschland ein Spenderorgan bekommen soll, ist jedoch nicht ausdiskutiert, wie die Forderung des Deutschen Ethikrats nach einer gesellschaftlichen Diskussion in seiner Sitzung im Oktober 2013 zeigt. Der Prozess gegen den Göttinger Transplantationschirurgen, dem Datenmanipulation zur Last gelegt wird, wird das Thema in den Medien ebenso wachhalten wie die Prüftätigkeit der Bundesärztekammer in Sachen Nieren- und Herztransplantation in den nächsten Monaten.
Blick hinter die Kulissen der Transplantationsmedizin
Vor 17 Jahren erschien eine soziologische Doktorarbeit, die sich mit der Organverteilung befasste und nun wieder hochaktuell ist: eine Feldstudie, die auf 30 ausführlichen Leitfaden-Interviews mit Vertretern der Transplantationsmedizin und der Politik sowie einer umfangreichen Auswertung der Literatur und einschlägiger Unterlagen beruhte. 1996, ein Jahr vor Verabschiedung des ersten deutschen Transplantationsgesetzes, sorgte das Buch „Politik der Organverteilung“ des Bremer Soziologen Volker H. Schmidt in Fachkreisen und in Ministerien für Aufsehen: Erstmals lieferte es ungewohnt offenherzige Einblicke in das Sys-tem der Organvergabe und das politische Ringen hinter den Kulissen um die Neustrukturierung der Transplantationsmedizin.
Medien und Öffentlichkeit nahmen damals jedoch kaum Notiz, waren sie doch viel zu sehr mit der Debatte beschäftigt, die um den Hirntod und die Zustimmung zur Organspende entbrannt war. Der Ruf nach mehr Transparenz und öffentlicher Diskussion der Organverteilung sollte erst im Jahr 2012 laut werden, nachdem die Öffentlichkeit durch Manipulationen von Patientendaten bei der Lebertransplantation aufgeschreckt worden war.
Was 1996 für öffentlichen Zündstoff hätte sorgen können, kann auch heute noch als Lektüre empfohlen werden, liest es sich doch im Jahr 2012 wie ein Menetekel des Transplantationsskandals und eröffnet interessante Einblicke in die Gedankenwelt von Transplantationsmedizinern zu diesem Thema. Anhand von Schmidts Insider-Interviews ist nachvollziehbar, wie damals in den Gremiensitzungen und bei Fachtagungen Mitte der neunziger Jahre um eine Organverteilung gerungen wurde, die einerseits medizinisch-wissenschaftlich basiert und rechtlich unangreifbar sein sollte, anderseits darauf angelegt war, die logistischen Zwänge der Transplantationsmedizin sowie die Interessen der beteiligten Institutionen und Ärzte zu berücksichtigen.
Nicht nur Titel und Thema, auch die Intensität von Schmidts Recherche waren 1996 ein No-vum: Die ins Detail gehende „Untersuchung über Empfängerauswahl in der Transplantationsmedizin“, so der Untertitel der Dissertation, ist gleichzeitig eine soziologische Analyse zur Lage der deutschen Transplantationsmedizin Mitte der neunziger Jahre. Das hatte es nie zuvor gegeben und sollte es auch danach nicht mehr geben. (Den Text haben die befragten Insider übrigens vor Veröffentlichung gegengelesen.) Die komplexen Abhandlungen auf knapp 190 Seiten sind allerdings keine leichte Kost für den Leser- medizinische Ausführungen sind heute selbstverständlich zum Teil wissenschaftlich überholt.
Der „unbestechliche“ Computer bei Eurotransplant
Hauptleistung der Dissertation ist der Nachweis, dass ethische und soziale Kriterien bei der Diskussion um die Organverteilung zu kurz kamen. Schon der Titel „Politik der Organvertei-lung“ kennzeichnet zweifach die Brisanz des Themas: Die Vergabe von Organen, die Menschen der Gesellschaft nach ihrem Tode schenken, ist per se nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein politisches Thema, nämlich des Umgangs mit einem rationierten Gut. Die Transplantationsmedizin ihrerseits hatte 1996 ein so hohes Renommee erreicht und derart an medizinischer und wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen, dass sie selbst zum Gegenstand politischen Agierens von Interessengruppen geworden war.
Im Mittelpunkt der Dissertation steht die intensive Auseinandersetzung mit den Vergabekri-terien für die einzelnen Organe. Diese sind heute gesetzlich geregelt: Seit Verabschiedung des Transplantationsgesetzes 1997 teilt Eurotransplant die meisten Spenderorgane nach Richtlinien, die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen sollen, insbesondere Dringlichkeit und Erfolgsaussicht, einzelnen Patienten zu. Die Richtlinien werden von den Kommissionen der Bundesärztekammer verabschiedet und kontrolliert. Es gab allerdings – bis zur Verschärfung des Transplantationsgesetzes im Sommer 2013 – definierte Ausnah-men, in denen das Transplantationszentrum selbst über den Empfänger entscheiden darf.
Die gängige Praxis vor 1997 sah anders aus: „Ein Teil des Organaufkommens wird nach Regeln über Eurotransplant verteilt, auf die sich die beteiligten Zentren verständigt haben, ein Teil wird lokal vergeben, d.h. dort, wo die Organe gewonnen wurden.“ Die Transplantationsmediziner verschanzten sich, schreibt Schmidt, in der Öffentlichkeit nur zu gerne hinter der „Legende“ des allein nach objektiven Kriterien entscheidenden „unbestechlichen“ Computers bei Eurotransplant. Gegenüber einer umfassenden Diskussion der Organvergabe über die Medizin hinaus, die ethische, aber auch interessensgeprägte Kriterien offen anspricht, waren sie nicht aufgeschlossen. „Das Niveau der Debatte ist – verglichen mit den USA – erschreckend gering. Die Mediziner suchen ihr Heil im ver-meintlichen Stand der Wissenschaft und in medizinischen Kriterien, die keine sind, weil ihre Anwendung medizinisch gar nicht zu begründen ist“, resümiert Schmidt.
Nicht alle Patienten werden in die Warteliste aufgenommen
Welche Diskussionen haben die Transplantationsmediziner und Gesundheitspolitiker damals unter sich geführt? Die Antworten in der Feldstudie fallen sehr unterschiedlich aus und offenbaren teilweise eine erstaunliche Unsicherheit, etwa bei der Frage, welcher Patient nach welchen Kriterien in die Warteliste aufgenommen werden sollte. Die Vergabe, analysiert Schmidt, besteht nicht aus einem, sondern aus drei Schritten, bei denen jeweils eine Entscheidung getroffen werden muss: Um ein Organ zu bekommen, muss der Patient zunächst von seinem Arzt an das Transplantationsprogramm einer Klinik überwiesen werden, dann wird in der Klinik über die Aufnahme in die Warteliste entschieden und schließlich wird dem Patienten ein angebotenes Spenderorgan zugeteilt und von ihm und dem Transplantationszentrum angenommen. Bei der Vergabe werde aber meist nur der letzte „tragische“, da oft lebensrettende, Schritt diskutiert.
Die nicht minder tragische Entscheidung über die Aufnahme auf die Warteliste wird von Ärzten ebenfalls als schwierig und belastend empfunden. „Wie vielen Menschen sollen wir Hoffnung machen, dass sie ein Organ bekommen? Wenn wir wissen, unsere Warteliste wird immer größer, die Anzahl der Transplantationen steigt aber nicht proportional, fällt sogar mal ab, wie viele sollen wir in diese Liste aufnehmen? … Ausweg derzeit ist, dass wir wohl deutlich weniger in die Warteliste nehmen, als wir es medizinisch könnten“, sagt ein Transplantationsmediziner. Schmidt zitiert in seinem Buch führende Leberexperten, die davon ausgehen, dass es deswegen nur ein Bruchteil der Patienten, denen mit einer Lebertransplantation geholfen werden könnte, überhaupt auf die Warteliste schafft.
Lebertransplantation: Die Ärzte entschieden über Empfänger
Der Transplantationsskandal 2012 hatte die Lebertransplantation im Fokus. Wie wurde die Vergabe von Spenderlebern 1996 im Vorfeld des Transplantationsgesetzes diskutiert? „Im Leberbereich obliegt die gesamte Empfängerauswahl den Transplanteuren vor Ort“, hält Schmidt in seiner Dissertation fest. Die Ärzte stehen bei jedem Organangebot vor einem Dilemma: „Stets stellt sich aufs Neue die Frage, wer leben soll bzw. sterben muss, wenn nicht alle leben können“, sagte ein Chirurg. Wie sollen die Ärzte entscheiden? Geht es um Lebensrettung oder größere Erfolgsaussicht? Soll es Altersgrenzen geben? Wie sind alkoholabhängige Patienten oder Raucher zu bewerten? Dürfen etwa auch Familienstand, deutsche Sprachkenntnisse oder gesunder Lebensstil eine Rolle spielen?
Die medizinischen Kriterien dominierten gleichwohl die Diskussion. Wegen des drohenden Organversagens hatte die Wartezeit eine untergeordnete Bedeutung, blieben Dringlichkeit und Erfolgsaussicht. Darüber hinaus wurde bei der Vergabe darauf geachtet, dass Alter und Qualität von Empfänger und Spenderorgan übereinstimmten: Organe von älteren oder Patienten mit Begleiterkrankungen wollte man nicht jungen Patienten geben. Außerdem sei nur Patienten die stets riskante Transplantation „zuzumuten“, bei denen andere Therapien versagt hätten.
Einige Zentren orientieren sich eher am Erfolg der Transplantationen, während bei anderen die Dringlichkeit Vorrang hat, stellte Schmidt fest. Vertreter der Dringlichkeit sahen hier ein „höheres Recht auf ein Organ“. So hätten die auf Dringlichkeit ausgerichteten Zentren eine schlechtere Erfolgsrate als die frühzeitig transplantierenden Zentren. Wissenschaftlich gesichert waren diese Aussagen allerdings nicht: Es fehlte ein Transplantationsregister, das die Erfolge und Misserfolge von Transplantationen hätte nahvollziehbar und transparent machen können.
Schmidt beschreibt sehr unterschiedliche Vorgehensweisen an den rund 20 Le-bertransplantationszentren in Deutschland: Unterschiede gebe es nicht nur bei den Kriterien, sondern auch bei der Systematisierung des Entscheidungsprozesses sowie bei der Zahl der Beteiligten. „Es gibt (z.T. große) Zentren, an denen die Empfängerauswahl letztlich nur von einer oder zwei Personen getroffen wird.“ An anderen Zentren wiederum fänden regelmäßige Transplantationskonferenzen mit allen in die Behandlung involvierten Ärzten statt, die gemeinsam jede Woche eine Prioritätenliste für die Transplantation erstellten. Gebe es keinen Konsens hätte der Chefarzt das letzte Wort.
Gibt es überhaupt rein medizinische Kriterien?
Doch viele Kriterien haben offensichtlich keinen medizinischen Hintergrund. Auch „medizinische“ Entscheidungen seien moralisch oder ethisch geprägt, was sich Ärzte und Patienten oft nicht bewusst machten, argumentiert Schmidt. Schon der Versuch der Beschränkung auf rein medizinische Kriterien, sei keine medizinische Entscheidung, sondern eine politische. Das einschlägige medizinische Fachwissen lasse immer Entscheidungsspielräume offen, die Ausschlüsse rechtfertigten, aber nie eine bestimmte Vergabeentscheidung determinierten. Die scheinbare Beschränkung auf fixe medizinische Kriterien entlastet die Ärzte zwar vordergründig von ihrer Entscheidung, aber letztlich nicht von ihrer Verantwortung. Rückblickend und vor dem Hintergrund der „am Stand der medizinischen Wissenschaft“ ausgerichteten Richtlinien für die Organvermittlung ist zu fragen: Können Laborwerte und computertomographische Befunde und in Monaten bemessene Alkoholabstinenz, wie sie heute als Kriterien bei der Organverteilung eingesetzt werden, tatsächlich die ärztlich-ethische Entscheidung ersetzen?
Hintergrund der Fachdiskussion um die Organvergabe in den Jahren 1995/96 ist das Dilemma, in dem sich die Transplantationsmedizin seit den neunziger Jahren befindet: Sie ist Opfer der eigenen Triumphe geworden. Diese Entwicklung beschreibt Schmidt einerseits als segensreiche Erfolgsgeschichte, von der immer mehr schwerkranke Patienten profitieren. Anderseits: Während Zahl der Transplantationen und der Kliniken, die transplantieren – es gibt mehr als 30 Transplantationszentren in Deutschland – ¬ zunimmt, werden die Wartelisten immer länger. Preis des Erfolges ist ein Mangel an Spenderorganen, verknüpft mit der schwierigen Frage, wie das knappe Gut der Spenderorgane verteilt werden soll.
Die Politik hält sich lange aus dem Organspende- und Transplantationsgeschehen heraus: Gemeinnützige Organisationen wie Eurotransplant und die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), von Immunologen, Transplantationsmedizinern und einem gemeinnützigen Dialyseanbieter gegründet, springen ein- die Krankenkassen finanzieren allmählich den Aufwand. Die Transplantationsmedizin ist zunehmend lukrativ für die Kliniken und mit hohem Renommee verbunden. Ein Transplantationsgesetz, das in anderen europäischen Ländern längst vorliegt, wird zunächst von fast niemandem für nötig gehalten, zumal die Bundesländer hier Gesetzeshoheit beanspruchen können und eine Kleinstaaterei bei der Organspende-Gesetzgebung nicht in Frage kommt. Die Transplantationsmediziner haben sich einen allgemeinen Kodex gegeben, der ihnen Raum zur Ausgestaltung lässt.
Skandale und Wiedervereinigung befördern Gesetzgebung
Doch dann wird der Nimbus der Transplantationsmedizin durch Skandale erschüttert. Organangebote aus Indien und Osteuropa kursieren in deutschen Kliniken. Dass 1990 ein bayrischer Fürst umgehend gleich zwei Spenderherzen bekommt, ist der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln: Erstmals wird öffentlich eine gerechtere Vergabe der Spenderorgane gefordert. Die Politik wird wach. Dazu kommt die Wiedervereinigung: In der DDR gilt die Widerspruchslösung, nach der jeder Verstorbene, der nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, Organspender werden kann, die mit dem Einigungsvertrag obsolet wird. Nun geht es darum, die Bevölkerung auch bei Organspende und Transplantation zu vereinen. 1994 verschafft eine Grundgesetzänderung dem Bund ausreichende Kompetenz- das erste deutsche Transplantationsgesetz wird in Abstimmung mit den Bundesländern auf den Weg gebracht und 1997 überparteilich verabschiedet. Über die Organvergabe wird – im Gegensatz zu Hirntod und Zustimmungslösung – im Bundestag nie debattiert.
Schmidts Dissertation widmet sich in weiten Teilen der geplanten Neustrukturierung der Transplantationsmedizin, die Anfang der neunziger Jahre im Vorfeld der Gesetzgebung heftig diskutiert wird. Was hatte sich bewährt? Was musste geändert oder ergänzt werden? Schmidt beschreibt eine skeptische Haltung der Politik gegenüber der Zuständigkeit von Eurotransplant für die Organverteilung. Die Institution hatte an sich einen glänzenden Ruf: Durch einen größeren Spenderpool sorgte sie dafür, dass Patienten ihrer fünf Mitgliedsstaaten immunologisch passende Organe bekommen und bei akutem Organversagen umgehend Spenderorgane zur Verfügung standen. Zudem profitierte Deutschland vom höheren Spenderaufkommen der anderen Mitgliedsstaaten.
Nationale Vermittlungs-Institution war im Gespräch
Aber kann die gemeinnützige Stiftung im holländischen Leiden, der 1996 neben Deutschland noch die Beneluxstaaten und Österreich angehören, die heikle Aufgabe der Organvergabe übernehmen und für ihre Umsetzung rechtlich einstehen, nachdem sie es in der Vergangenheit nicht geschafft hatte, Fehltritte gegen ihr eigenes Regelwerk zu ahnden? Die Bundesländer, die zunächst gesetzgeberisch am Zug waren, bringen deshalb als Gegenvorschlag eine nationale Vermittlungs-Institution ins Gespräch, was jedoch von den Transplantationsmedizinern vehement abgelehnt wird.
Die Stellung von Eurotransplant bei der Durchsetzung von Regeln ist ein zentraler Punkt in Schmidts Arbeit: „Eurotransplant verfügt über keine Handhabe, gegen unkooperative Zentren vorzugehen, und hat dergleichen bislang auch nicht angestrebt.“ Diese Schwäche habe zwei Gründe. Die Leiter der Transplantationszentren, meist Klinikdirektoren, hätten eine starke Stellung und ließen ungern in ihre Befugnisse eingreifen. Dies bedeute aber auch, dass sie Entscheidungen von Kollegen respektierten, „solange diese sich im Rahmen des Vertretbaren bewegen und sich im Einklang mit den üblichen professionstypischen Normen befinden.“ Wer beispielsweise Organe behalte, um damit etwas für eigene Patienten tun zu können, handele nach dem gängigen Urteil zwar falsch, aber nicht unredlich. Am Eurotransplant-Verbund nehme man auch nur teil, weil man sich medizinische Vorteile verspreche und nicht weil man sich einer Kontrolle unterwerfen wolle.
Der erste Entwurf der Bundesländer für ein deutsches Transplantationsgesetz aus dem Jahr 1994, der verworfen wurde, erkannte die Schwachstellen und schlug vor, dass „gewisse Mindestvorgaben für eine mögliche gerechte Verteilung vorzusehen sind.“ Desgleichen war geplant, Ordnungswidrigkeiten für Verstöße gegen die Vergaberegeln mit einer erheblichen Geldbuße zu ahnden. Als Kontrollinstanz sieht der Länderentwurf staatliche Stellen auf Länderebene vor, die die Vergabe- und Transplantationspraxis überwachen sollen. Der Vorschlag scheitert jedoch u.a. daran, dass die fachliche Kompetenz einer solchen Behörde in Zweifel gezogen wird.
Vergaberichtlinien nach „dem Stand der medizinischen Wissenschaft“
Der Bund setzte mit seinem Gesetzesentwurf dagegen auf weniger Staat und betraute die 1994 gegründete, 16-köpfige „Ständige Kommission Organtransplantation“ der Bundesärztekammer. In seiner Dissertation bewertet Schmidt die geplante neue Regelungs- und Kontrollkompetenz bei der ärztlichen Selbstverwaltung positiv, vor allem die Zusammensetzung der Kommission: „Die Kommission besteht nicht nur aus Transplantationsärzten, nicht mal nur aus Ärzten, sondern auch aus unabhängigen Kräften. Insofern scheint sie besser geeignet, auch Beratungs- und Kontrollfunktionen wahrzunehmen.“
Das Transplantationsgesetz sah später dann vor, dass die Kommission „den Stand der medizinischen Wissenschaft feststellt“ und entsprechende Regeln „insbesondere nach Dringlichkeit und Erfolg“ für die Organverteilung erarbeitet- die ethische und moralische Dimension der Organverteilung findet im Gesetzestext dagegen kaum Niederschlag: Die Wartezeit spielt nur bei der Vergabe der Spendernieren eine Rolle, Kinder werden zudem bevorzugt. Mit der Organvergabe wird eine Vermittlungsstelle beauftragt, die von den Spitzenverbänden beauftragt wird. Den Zuschlag erhält Eurotransplant.
Ein nationales „Rudolf-Pichlmayr-Institut“?
Im Zuge des Transplantationsskandals 2012 ist auch die Diskussion über die Strukturen der Transplantationsmedizin wieder aufgeflammt. Doch nur wenige Kritiker aus Medizin und Politik haben öffentlich in Frage gestellt, ob sich die „Gewaltenteilung“, die seinerzeit u.a. von dem Gründervater der deutschen Transplantationsmedizin, dem 1997 verstorbenen Chirurgen Rudolf Pichlmayr, befürwortet worden war, in der Praxis bewährt hat und nicht vielmehr zum Nährboden für die aktuellen Probleme geworden ist. Wäre eine Bündelung der Aufgaben von Organspende, Richtlinien-Erstellung und Kontrolle und Administration der Organvermittlung eine erfolgreiche Alternative? Die Forderung nach einem Bundesamt in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 29.4.2013), das den Namen „Rudolf-Pichlmayr-Institut für Transplantationsmedizin“ tragen sollte, fand bislang kaum offene Zustimmung.
2013 ist das Thema Organverteilung in der Öffentlichkeit angekommen: Der Ethikrat setzte sich in seinen öffentlichen Sitzungen für eine Überarbeitung der Vergabepolitik nach ethischen Kriterien ein. Die Überarbeitung der Spenderkriterien, insbesondere bei der Lebertransplantation, aber auch bei der Nierentransplantation wird auch von den Transplantationsmedizinern öffentlich gefordert: Sollen tatsächlich schwerstkranke oder ältere Patienten bevorzugt eine Spenderorgan bekommen, obwohl ihre Prognose schlechter als die von Patienten in einem früheren Stadium der Krankheit ist?
Patienten und Medien fordern ein Transplantationsregister
Die Politik hat als Konsequenz aus dem Skandal das Transplantationsgesetz verschärft, mehr Regeln, Kontrollen und Strafen eingeführt, das dreiteilige System der Transplantationsmedizin aber unangetastet gelassen. Eine gesellschaftliche Diskussion der Vergabekriterien, wie sie vom Autor Schmidt und vom Deutschen Ethikrat gefordert wurde, steht indes noch aus.
Im Zentrum des politischen Ringens steht heute ein Thema, das vor 20 Jahren noch nicht ganz oben auf der Agenda stand und in der Umsetzung bislang gescheitert ist: die Qualitätssicherung der Transplantation durch ein Register. Wichtige Fragen könnten damit beantwortet werden: Wie wird sich die Anwendung der Verteilungskriterien in Deutschland auswirken? Welchen Einfluss hat die Beschaffenheit des transplantierten Organs, der Zustand des Organspenders auf die Funktionsdauer des Organs? Aber auch: Welche Transplantations-Ergebnisse können die einzelnen Zentren aufweisen?
Die Patientenverbände und die veröffentlichte Meinung drängen auf eine Umsetzung der Qualitätssicherung durch ein Transplantationsregister. Fachjournalisten, die den Transplantationsskandal aktiv begleiten, erklärten kürzlich auf Befragung hin unisono: „Was Deutschland heute vor allem braucht, ist ein funktionierendes und zugängliches Transplantationsregister, das die Erfolge und Misserfolge der verschiedenen Kliniken bei den verschiedenen Organen abbildet.“ Seine Einführung – begleitet von einer offenen gesellschaftlichen Debatte der Vergabekriterien – könnte verlorenes Vertrauen zurückgewinnen helfen.
Annette Tuffs war von 1993 bis 2001 Pressesprecherin der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Heute leitet sie die Unternehmenskommunikation am Universitätsklinikum Heidelberg.
