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Wird Demenz zur Seuche?

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Alt werden ist schön – wenn man gesund bleibt. Immer mehr erleben aber ihren geistigen Verfall. Die Demenz-Epidemie kommt, heißt es. Mediziner widersprechen: Es gibt keinen Automatismus.

Ungünstige Prognosen haben den großen Vorteil, dass man nachher eher positiv überrascht wird. Das betrifft etwa Zahlen wie diese: 135 Millionen Menschen mit Demenz im Jahr 2050 – dreimal so viele wie heute. Europa allein muss mit 16 Millionen rechnen. Das sind neue Vorhersagen der Internationalen Alzheimer-Organisation ADI. Niemand kann heute ihre Richtigkeit prüfen, den meisten reicht es, wenn sie schlüssig sind. Auch Wissenschaftler gehen so vor. Das gilt auch für an sich positive Prognosen wie die des weltweit anerkannten Max-Planck-Instituts für demographische Forschung von vor einem Jahr. Jedes zweite heute geborene Kind kann hundert Jahre alt werden, hatten die Wissenschaftler ausgerechnet. Darin steckte die Annahme, dass die Bedingungen, in denen die Kinder groß und älter werden, nicht bleiben, wie sie sind, denn dann bliebe die Lebenserwartung annähernd konstant bei um die 80. Vielmehr nahmen die Rostocker Forscher an, dass die Lebensverhältnisse und mit ihnen die medizinischen wie hygienischen und ernährungsphysiologischen Bedingungen kontinuierlich besser werden – so wie bisher schon.

Wie schnell aus einer günstigen eine ungünstige Prognose werden kann, hat sich dann rasch gezeigt: Denn aus einer rapide steigenden Lebenserwartung lässt sich rechnerisch ebenso gut auch eine rapide wachsende Zahl von Dementen ableiten. Dann nämlich, wenn man annimmt, dass die Prävention und Behandlung von Alzheimer sich etwa so weiterentwickelt wie bisher – nämlich kaum von der Stelle. Schon diese Annahme ist fragwürdig, ja nicht einmal wahrscheinlich. Dazu muss man keineswegs auf visionäre Projekte wie eine Alzheimer-Impfung verweisen oder die Fortschritte in der Stammzellforschung. Es genügt, die Fortschritte der konventionellen Medizin aufzurufen. In der jüngsten Ausgabe des „New England Journal of Medicine“ hat das eine Gruppe um Eric Larson von der University of Washington in Seattle getan. Die Wissenschaftler haben zwei amerikanische und drei europäische Studien aus den letzten Jahren aufgearbeitet und kommen zu einem bemerkenswerten Schluss: Obwohl die Häufigkeit von Demenzen statistisch mit dem Alter vor allem ab 80 Jahren stark zunehme, gebe es gute Gründe anzunehmen, dass der Anteil der altersdementen Patienten an der Bevölkerung in vielen Ländern abnehmen könnte. Mehrere Gründe kommen da zusammen: Bildung und Wohlstand hätten sich in den vergangenen Jahren als „Schutzfaktor“ gegen Demenz erwiesen – gebildete Menschen erhalten ihre Gesundheit besser, insbesondere in den entscheidenden mittleren Jahren vor Erreichen des hohen Alters. Und in gebildeten, wohlhabenderen Gesellschaften werde das verstärkt kultiviert, was die Forscher die „ individuelle Risikofaktoren-Kontrolle“ nennen. Das betrifft insbesondere die Risiken für gesunde Gefäße.

Die wichtigste zitierte Studie ist vor kurzem in der Zeitschrift „Lancet“ erschienen. In der „Cognitive Funktion and Aging Study“ Teil eins und zwei wurden in drei englischen Regionen mehr als 7500 über 65-Jährige unter die Lupe genommen – einmal zwischen 1989 und 1994, ein zweites Mal zwischen 2008 und 2011. In der ersten Erhebung waren 8,3 Prozent der Probanden mit kognitiven Einschränkungen aufgefallen, in der zweiten nur noch 6,5 Prozent. Und das, so die Forscher, obwohl der Anteil an Diabeteskranken und die Überlebensraten von Schlaganfällen, die besonders anfällig für Demenz machen, zugenommen haben.

Wird also womöglich alles gar nicht so schlimm? Das stimmt erstens nicht für das Individuum, denn wie groß das Risiko der Demenzerkrankung ist, hängt nicht vom statistischen, sondern vom individuellen Risikomanagement ab. Und es wird auch statistisch gesehen für wohlhabende, gut gebildete Populationen in zweierlei Hinsicht nicht zutreffen: Denn zum einen dürfte die Lebenserwartung – eben wegen jener verbesserten Risikokontrolle – insgesamt so schnell zunehmen, dass zwar die Zahl der Demenzkranken anteilig abnimmt, aber in absoluten Zahlen weiter rasant zunimmt. Statt 50 (bei tausend Senioren) wird man 100 (bei dreitausend Senioren) mit Demenz haben. Zum zweiten gilt für die Extrapolation dieser jüngeren Entwicklung, so verlockend sie auch sein mag, das Gleiche wie für alle Vorhersagen: Die Annahmen sind entscheidend.

Eine Prämisse könnte die künftige Prognose nämlich schon zunichtemachen, geben auch die amerikanischen Mediziner um Eric Larson zu bedenken: Schlägt sich die speziell bei Menschen im mittleren Alter rasant steigende Zahl an fettleibigen Patienten pathologisch auf die Gefäßgesundheit nieder, könnte es schon wieder vorbei sein mit der positiven Überraschung in der Demenzprognose. Aber auch dieser enge Zusammenhang hängt, wie gesagt, statistisch noch in der Luft.