
Acetylsalicylsäure wird zu einem Hoffnungsträger der Krebsmedizin. Schon gilt das gängige Medikament als „Superdroge“. Allerdings profitieren nicht alle Patienten gleichermaßen.
Bayer hätte sich keine bessere Werbung für das zum eigenen Markenzeichen gewordene Aspirin wünschen können: Der bislang größte Krebskongress auf europäischem Boden (European Cancer Congress) unter der Regie von gleich mehreren Krebsgesellschaften widmete der „Wunderdroge Aspirin“ in Amsterdam unlängst eine eigene wissenschaftliche Sitzung. Vor einem vollen Saal hatte allen voran die Ernährungswissenschaftlerin Cornelia Ulrich, Leiterin der Abteilung Präventive Onkologie und Mitglied im Direktorium des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg, jene Argumente vortragen dürfen, die die Substanz derzeit zu dem Hoffnungsträger einer pharmakologisch ausgerichteten Krebsprävention machen.
Während die internationale Forschergemeinde schlicht von Aspirin spricht, wenn sie die Substanz Acetylsalicylsäure oder ASS meint, ist hierzulande „Aspirin“ der Handelsname, unter dem die Substanz von Bayer verkauft wird- es gibt aber auch andere Produkte mit ASS. ASS ist zwar hauptsächlich als Hemmstoff der Blutgerinnung und als Schmerzmittel bekannt. Es entfaltet jedoch ebenfalls vielfältige Schutzfunktionen gegenüber Krebszellen, insbesondere gegen Darmkrebs. So soll eine regelmäßige Einnahme von ASS – beispielsweise zur Blutverdünnung nach einem Infarkt – das Auftreten von Darmkrebs um rund vierzig Prozent verringern. Außerdem wiesen Patienten unter ASS weit seltener Fernmetastasen auf, wenn sie bereits von einem Tumor befallen waren. Offenbar bedarf es einer gewissen Zeitspanne, bis sich die krebshemmende Wirkung entfaltet, erst nach fünf bis zehn Jahren lässt sich der Nutzen überzeugend belegen. Lange Zeit wurde debattiert, ob auch eine geringere Dosis – der „low dose“-Gebrauch ist vor allem im Rahmen der Gerinnungshemmung üblich – oder eine seltenere Einnahme ebenfalls erfolgreich die Darmkrebsrate verringert. Auch hier verdichtet sich die Beweislage dafür, dass selbst unter geringen Dosen der Schutzschild noch funktioniert, so jedenfalls das Ergebnis einer in diesem Sommer erschienenen Studie („Annals of Internal Medicine“ Bd.159(2), S.77).
Überzeugende Daten
Da ASS mit einer größeren Blutungsneigung einhergeht, argwöhnten einige Experten, dies könne schlicht dazu geführt haben, dass nur öfter Blut im Stuhl bei der Darmkrebsvorsorge nachgewiesen wird und diese Patienten sorgfältiger im Rahmen der Vorsorge untersucht werden. Das hieße, man entdeckte Polypen oder Adenome unter einer ASS-Therapie zwar früher, aber eine echte antikanzerogene Wirkung wäre nicht vorhanden. Diese Zweifel konnten jedoch ausgeräumt werden, denn andere Hemmer der Blutgerinnung, etwa Vitamin K-Antagonisten, verringern die Darmkrebsrate eben nicht. Besonders überzeugend sind jene Daten aus einer Reihe von Studien, die zeigen konnten, dass ASS insbesondere bei dem genetisch fixierten Lynchsyndrom das bei diesen Personen deutlich erhöhte Darmkrebsrisiko erheblich verringern kann.
So gut der Zusammenhang zwischen geringerem Darmkrebsrisiko und ASS mithin belegt werden kann, die Frage bleibt – wie macht ASS das? Darauf gibt es viele Antworten: Seine Wirkung auf die zirkulierenden Blutplättchen könnte bei der Verbreitung von Krebszellen hinderlich sein, ASS spielt offenbar bei der Apoptose, dem programmierten Zelltod, eine Rolle, es hat womöglich Einfluss auf die Mutationsrate – bei den sich oft regenerierenden Oberflächen wie der Darmschleimhaut könnte das wichtig sein – und ASS kann sogar die Wirkung verschiedener Medikamente, etwa von Cisplatin und Interferon-Alpha, auf Krebszellen modulieren. Eine besonders einleuchtende Hypothese, auf die Ulrich in Amsterdam einging, lautet, dass ASS entzündungsfördernde Mediatoren in Schach hält. Denn seine schmerzhemmende Wirkung entfaltet sich über den Eingriff in die Synthese der dafür verantwortlichen Prostaglandine. Eine erhöhte Zirkulation entzündungsfördernder Mediatoren im Körper gilt ihrerseits als Nährboden für die Entwicklung von Krebs. Die Blockade der innerhalb dieser Synthesewege entscheidenden Enzyme, der Cyclooxygenasen 1 und 2, variiert indes beträchtlich zwischen Individuen.
Genvarianten sind entscheidend
Ulrich zeigte Studienergebnisse, darunter auch noch nicht veröffentlichte aus den Heidelberger Forschungslaboren, wonach bestimmte Genvarianten darüber bestimmen, wie gut beim einzelnen Patienten etwa die Plättchenfunktion als Weichensteller der Blutgerinnung reagiert. Gleichzeitig modulieren die genetischen Varianten aber auch die Tumorhemmung. Das schaffe, so Ulrich, einen Spielraum dafür, die bestmöglichen Effekte für den Patienten herauszuholen: Anhand dieser Risikokriterien ließen sich künftig womöglich Gruppen definieren, die von den krebshemmenden Eigenschaften des ASSs profitieren könnten, ohne dass die unerwünschte Nebenwirkung des erhöhten Blutungsrisikos diese günstige Wirkung konterkariert.
Eine Arbeitsgruppe aus der chirurgischen Universitätsklinik der Universität Leiden präsentierte in Amsterdam erste Ergebnisse von 999 Darmkrebspatienten, deren Gewebstypisierung – die HLA-Klasse – darüber entschied, ob ASS den Verlauf der Krebserkrankung verhindern konnte. Alle nahmen ASS in niedriger Dosis ein, aber nicht alle profitierten. Wie die Leiterin der Untersuchung, Marlies Reimers, erläuterte, war das Risiko, innerhalb von vier Jahren nach der Diagnose zu sterben, bei jenen Patienten, deren Tumorzellen zur HLA-Klasse 1 gehörten, nur halb so groß wie das derjenigen Krebskranken, die einen anderen Typ aufwiesen. Solche Beobachtungen befeuern derzeit eine Vielzahl von Studien, in denen ASS bereits gezielt im Hinblick auf seine anti-kanzerogenen Eigenschaften bei Krebspatienten getestet wird. Denn die früheren Studiendaten stammten von Patienten, die ASS ohnehin wegen einer anderen Erkrankung einnahmen. Jetzt testet man es bereits als echtes Adjuvans zur Chemotherapie und als rein prophylaktisches Medikament.
Hohe Erwartungen an die „Superdroge“
Die zunehmende Aufklärung der genetisch bedingten Wirkunterschiede erklärt auch manchen widersprüchlichen Befund im Hinblick auf andere Krebsarten. In Amsterdam übernahm Cristina Bosetti, Mathematikerin und Epidemiologin am Mario Negri Institut in Mailand, die Aufgabe, die teilweise hochgesteckten Erwartungen an die Superdroge ASS mit ihrer differenzierten Darstellung zu dämpfen.
Was die Verhinderung von Krebs angeht, so ist das Bild nämlich keineswegs einheitlich. So gibt es zwar Hinweise, dass ASS auch bei Lungenkrebs eine günstige Wirkung auf den Verlauf haben könnte, aber auch hier offenbarte sich dies erst, nachdem man das Schicksal der Betroffenen über zwanzig Jahre hinweg verfolgt hatte. Es sieht so aus, dass in diesem Fall auch nur die Männer profitieren. Auch beim Prostatakrebs gilt es, lange zu warten, bis sich Ergebnisse zeigen und ob ASS bei Brustkrebs nützt, hängt offenbar vom Hormonrezeptorstatus der Krebszellen ab. Betrachtet man Eierstocks- und Gebärmutterkrebs und den schwarzen Hautkrebs (Melanom), so lassen sich offenbar keine konsistenten Ergebnisse berichten. Von einer Empfehlung, ASS gezielt bei Krebspatienten zur Behandlung einzusetzen, wollte denn auch niemand sprechen.
Wer angesichts des günstigen Preises und der freien Verfügbarkeit dieses Medikamentes vorhat, sich einfach selbst vorbeugend zu behandeln, sollte bedenken, dass es auch nachteilige Beobachtungen im Zusammenhang mit Krebserkrankungen gibt. Das gilt für den Nierenzellkrebs, der offenbar unter ASS häufiger vorkommt, obwohl dieser Befund im Amsterdam aufgrund des Studiendesigns angezweifelt wurde. Außerdem wurde ein gehäuftes Auftreten von bestimmten Formen des Lymphdrüsenkrebses, den Non-Hodgkin-Lymphomen, unter ASS beobachtet. Schließlich ist ASS offenbar auch nicht in jeder Kombination mit einer Chemotherapie nur nützlich, was in Brüssel nicht zur Sprache kam. So schwächt es die wachstumshemmende Wirkung von Methotrexat auf Lungenkrebszellen, wie eine Arbeit erst kürzlich nachwies („Oncology Reports“, doi: 10.3892/or.2013.2561). Es läuft darauf hinaus, dass ohne eine genauer Charakterisierung der Patienten auch das Allroundtalent ASS nicht einfach nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden darf, so verlockend eine allgemeine Krebsprävention oder Zusatztherapie mit solch einer Substanz auch sein mag.
