
In den Vereinigten Staaten ist eine Debatte über das Gesundheitssystem entstanden. Ärzte berichten offen vom Leid der Patienten, die keine Krankenversicherung haben.
Um unser Gesundheitssystem werden wir weltweit beneidet: Notwendige Therapien müssen wir nicht aus eigener Tasche bezahlen, lange Wartezeiten bleiben uns meist erspart und die Qualität der medizinischen Versorgung ist keine Frage des Geldbeutels. Von solchen Vollkasko-Zuständen können die meisten anderen Industrieländer nur träumen. Das gilt insbesondere für die Vereinigten Staaten, wo ein erheblicher Anteil der Bevölkerung nicht einmal eine Krankenversicherung besitzt. Amerikanische Ärzte sind daher beständig mit der Entscheidung konfrontiert, zahlungsunfähige Patienten entweder abzuweisen oder sie auf eigene Kosten zu behandeln – ein Dilemma, das viele von ihnen nicht länger hinnehmen wollen. Unter dem Titel „Dead Man Walking“ beschreiben Michael Stillmann und Monalisa Tailor vom Universitätsklinikum in Louisville/Kentucky das dramatische, in ihrer Heimat gleichwohl gängige Schicksal eines mittellosen Mannes, der im Endstadium einer Darmkrebserkrankung eines Tages an ihrer Klinik strandete. Trotz wachsender Beschwerden sei der Betroffene nicht zum Arzt gegangen, weil er sich dies nicht leisten konnte, schreiben die Internisten im aktuellen „New England Journal of Medicine“ (doi:10.1056/NEJMp1312793).
Debatte über sinnvolle Maßnahmen
Aber auch Personen, die über eine Krankenversicherung verfügen, erhalten in den Vereinigten Staaten längst nicht alles, was medizinisch geboten wäre. So hat die Großkasse Medicare im Zuge von Sparmaßnahmen kürzlich ihre Budgets für Chemotherapien zurückgestutzt – mit der Folge, dass Tausende Krebskranke ihre Behandlung abbrechen mussten. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb haben amerikanische Ärzte unlängst angeregt, eine intensive Debatte über nötige und unnötige medizinische Maßnahmen zu führen (www.choosingwisely.org). Überflüssige Untersuchungen und Behandlung kommen nämlich nicht nur die Selbstzahler teuer zu stehen. Sie belasten darüber hinaus die Krankenkassen, die dann möglicherweise andere, nutzbringendere Leistungen aus ihrem Katalog streichen.
Auch in Deutschland wäre es angebracht, sich mit dem Thema „Choosing Wisely“ näher zu befassen. Dabei geht es nicht um Rationierung, sondern um die sinnvolle Verwendung der begrenzten Mittel. Nur in wenigen Nationen muss die Solidargemeinschaft nämlich so viel schultern wie bei uns. So können hierzulande auch solche Verfahren weitgehend unkontrolliert angewandt werden, deren medizinischer Nutzen fraglich oder unbewiesen ist. Beispiele sind die vielen Wirbelsäulen-Operationen, aber auch etliche Eingriffe mit dem Katheter. Je länger man aber damit wartet, klare Prioritäten zu setzen, desto eher besteht die Gefahr, dass notwendige medizinische Leistungen irgendwann auch bei uns dem Rotstift zum Opfer fallen.
