Essen & Trinken

Wo das Essen alle Sinne befriedigt

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Kalifornien ist mehr als Hollywood und Silicon Valley. Es gibt dort auch eine interessante Küche: multikulturell, mit frischen Produkten und unkomplizierter Zubereitung.

Wenn sie an Kalifornien denken, haben die meisten Menschen wohl vor allem Hollywood, Venice Beach und Wein aus dem Napa Valley im Sinn. Nur wenige werden an die kalifornische Küche denken, die von frischen Produkten und meist unkomplizierten Zubereitungen geprägt ist. Heute spielen dabei lateinamerikanische und asiatische Einflüsse eine immer größere Rolle- der langgezogene Staat am Pazifik, der erst 1850 Teil Amerikas wurde, besinnt sich kulinarisch auf seine tatsächlichen geographischen Nachbarn, während anfangs noch Frankreich und Italien als Vorbild dienten.

Wer sich mit Kaliforniens Küche beschäftigt, kommt an Alice Waters nicht vorbei. Die kulinarische Erleuchtung der jungen politischen Aktivistin verband sich während eines längeren Frankreich-Aufenthalts Mitte der sechziger Jahre mit dem sozialpolitischen Idealismus der Hippies. Bar jeglicher gastronomischer Berufserfahrung eröffnete Waters 1971 ihr Restaurant „Chez Panisse“ in Berkeley, der Universitätsstadt nördlich von San Francisco, die ein Brennpunkt der Alternativ- und Antikriegsbewegung war. Eine „gute Küche als Basis für Diskussionen und Gespräche“ wollte sie servieren. Und dabei die Wertschätzung für gute, frische Produkte fördern, die sie in Frankreich kennengelernt hatte. Der direkte Einkauf bei den Bauern war ein politischer Akt, der sich gegen die Agrarindustrie wandte.

Räucherlachs-Pizza als Markenzeichen

Waters stellte lauter Köche ein, die keine formelle Ausbildung hatten. Doch viele von ihnen, etwa Jeremiah Tower, Jonathan Waxman oder Joyce Goldstein, eröffneten später eigene Restaurants. Zunächst aber bemerkten diese selbsternannten Köche, dass das Gemüse und die Früchte Kaliforniens anders schmecken als die in der Provence und dass sie demzufolge ihren eigenen Stil finden mussten.

Das erste ausdrücklich nordkalifornisch-regionale Menü wurde im Oktober fünf Jahre nach der Eröffnung, also 1976, im „Panisse“ serviert. Zum dreijährigen Jubiläum hatte Jeremiah Tower jedoch bereits kleine Pizzen mit Ziegenkäse und dunkelroten Sonoma-Beefsteak-Tomaten belegt und damit den Grundstock zu einem bis heute anhaltenden Trend geschaffen: Im 1982 von Wolfgang Puck eröffneten „Spago“ in Los Angeles gehört bis heute eine Räucherlachs-Pizza zu den Markenzeichen.

Interessant ist jedoch auch, dass 1976 im Panisse zu Austern aus Tomales Bay, Räucherforelle aus Big Sur, Gans aus Sebastopol und Käse aus Sonoma ausschließlich heimische Weine serviert wurden. Nur wenige Monate zuvor hatte der britische Weinhändler Steven Spurrier in Paris eine Blindverkostung von amerikanischen und französischen Weinen organisiert, die als „Judgement of Paris“ in die Geschichte einging. Die unvermutete Spitzenpositionierung der kalifornischen Gewächse sorgte für einen Eklat in Frankreich, bestärkte aber die amerikanischen Winzer in ihrem Streben nach stilistischer Unabhängigkeit, ganz wie es das „Chez Panisse“ in der Küche tat.

Bei der California Cuisine geht es um mehr als ums Kochen

Im Laufe der achtziger Jahre verbreitete sich die Philosophie der California Cuisine in Richtung Atlantik und bildete nicht nur die Grundlage der neuen amerikanischen Küche, sondern ließ immer mehr Bauernmärkte, sogenannte Farmers Markets, entstehen. Es war eine richtiggehende Farm-to-Table-Bewegung, vom Hof direkt auf den Tisch.

Das „Chez Panisse“ war und ist sicher nicht das beste Restaurant Amerikas und Waters nicht die Nummer eins am Herd (an dem sie im Übrigen selten selbst stand und steht). Aber sie gab einen extrem entscheidenden Impuls: Mimi Sheraton, die New Yorker Grande Dame der Gastrokritik, gesteht ihr nahezu Messias-Status zu. Ihr Kollege Todd Kliman vergleicht den „Panisse“-Effekt mit dem Einfluss von Punkrock auf die Popszene. Joyce Goldstein, deren Standardwerk zum Thema gerade erscheint, bestätigt, dass es bei der California Cuisine bis heute um weit mehr geht als nur ums Kochen. Statt sich als Konkurrenten zu sehen, bildeten Köche und Lieferanten zusammen mit den Privatverbrauchern ein großes Netzwerk, und umweltpolitische Faktoren seien ebenso wichtig wie der multikulturelle Aspekt.

Ein Essen wie ein erfrischender Sprung in den Pool

Um zu erleben, wie lebendig dieser Geist auch an seinem Ursprung bis heute ist, sollte man den Highway 1 von Monterey in Richtung Süden nach Big Sur fahren. Seit 2001 betreiben dort Michelle Rizzolo und Philip Wojtowicz in einer Rancher-Holzhütte neben einer winzigen Tankstelle die „Big Sur Bakery“. Das junge Paar aus New Jersey hatte zuvor in Los Angeles unter anderem bei Nancy Silverton im „Campanile“ gekocht und gebacken. Umrahmt von der gewaltigen Naturkulisse und inmitten der Althippie-Szene kreist ihre Küche vom Frühstück bis zum Dinner um den Holzofen – gänzlich unprätentiös und einfach gut.

Der multikulturelle Aspekt hingegen ist vielleicht am ausgeprägtesten im „Slanted Door“ in San Francisco. Das vergnüglich laute, modern eingerichtete und ziemlich große Restaurant im Ferry Building direkt am Wasser zieht sich rund um die offene Küche und Bar. Ein Essen hier ist wie der erfrischende Sprung in einen Pool nach einem langen, warmen Tag- es weckt und befriedigt alle Sinne. Was heute zu den umsatzstärksten Restaurants an der Westküste gehört, hat jedoch klein und bescheiden begonnen.

Vietnamesische Küche mit heimischen Zutaten

Gründer, Betreiber und Küchenchef Charles Phan wurde vor 50 Jahren in Vietnam geboren. Seine Eltern hatten zuvor in China alles verloren, über die Insel Guam im Westpazifik kamen sie in die Chinatown von San Francisco. Phan, der zu einem Gespräch im „Slanted Door“ in legerer Freizeitkleidung erscheint und ausgesprochen freundlich wirkt, sagt, er habe das Kochen schon als kleiner Junge von seiner Mutter und Tante gelernt. In Chinatown sei es seine Aufgabe gewesen, zu Hause fürs Essen zu sorgen.

Beruflich hätte er sich am liebsten aufs Töpfern verlegt, sein Vater beharrte jedoch auf einem Architekturstudium in Berkeley, so dass er die Anfänge der Farmers Markets und die Blütezeit des „Chez Panisse“ hautnah miterlebte. „Als ich begann, über ein Restaurant nachzudenken“, sagt er, „wurde mir klar, dass ich zwar vietnamesische Küche servieren, aber die gleichen großartigen Produkte verwenden wollte wie die heimische Küche.“ Bo Luc La zum Beispiel, das sind im Wok mit Zwiebeln und Knoblauch schnell angebratene Rindfleischwürfel, die mit Brunnenkresse und Limettensaft serviert werden. Das Gericht wird in Vietnam aus ziemlich zähem, zu lange gegartem Fleisch zubereitet, aber die Aromen sind so gut, dass Phan wusste: „Wenn ich das mit besseren Zutaten machen würde, wäre es ein Hit.“ Heute verwendet er Filet von Weiderindern.

„Wir ermuntern unsere Gäste, Neues zu probieren“

Ein Jahr nach der Eröffnung im Jahr 1995 (damals noch in der Valencia Street) stellte Phan komplett auf Bioprodukte um. Sein Ziel war es von Anfang an, die vietnamesische Küche zu rehabilitieren und in Kalifornien zu verwurzeln – mit modernem Design und gutem Wein. „Eine Herausforderung für uns war immer das Billig-Image der asiatischen Küche. Wir wollten den Leuten eine kulinarische Welt jenseits der 4,99 Dollar eröffnen. Dafür muss man Vertrauen aufbauen.“

Viele Vietnamesen kommen inzwischen zu ihm und sagen, sein Essen sei ja ein bisschen teuer, aber überraschenderweise habe der sonst sehr skeptischen Großmama das Essen wirklich gut geschmeckt. „Das gibt uns allen unseren Stolz zurück“, sagt Phan. Er hat ebenso genaue Vorstellungen wie Alice Waters: Bei den Produkten, die er verwendet, geht es ihm um die Ware und die Menschen dahinter, nicht um Firmen oder Marken. Coca-Cola gibt es bei ihm nicht.

Anfangs war die Weinkarte des „Slanted Door“ wie in den meisten Restaurants in San Francisco damals italienisch. Doch das erwies sich als unpassend zum komplexen, aromareichen Essen. Sehr schnell fand man zu Riesling aus Deutschland und Österreich- heute gibt es darüber hinaus schlanke, säurebetonte Weine. „Es geht mehr um die Art des Weins als seine Herkunft“, erklärt Phan, „wir möchten neue Horizonte eröffnen.“ Er fährt seit 1992 regelmäßig nach Vietnam, und er wehrt sich gegen Stereotype und romantisierte Vorstellungen. Vietnamesisches Bier schmecke wie Wasser und wird dennoch überall angeboten, und der kalifornische Wein passe meist nicht zur Küche im „Slanted Door“: „Wir ermuntern unsere Gäste immer, Neues zu probieren, und wenn ihnen irgendwas gar nicht gefällt, bekommen sie ihr Geld zurück.“

Frühlingsrollen alla Mama: Ein gelungener Balanceakt

Wie im „Chez Panisse“ sind Atmosphäre, Service und Essen im „Slanted Door“ ungekünstelt und unkompliziert. Dennoch stimmt jedes Detail. Architektur lehre einen, Probleme zu sezieren und so zu lösen, erklärt Phan. Bánh nam etwa, ein im Bananenblatt gedämpfter Reisteig, der mit getrockneten Shrimps und Schweinefleisch aromatisiert wird, sei dafür ein gutes Beispiel. Wie bei Congee-Reissuppen sei es wichtig, dass das Ganze nicht zu Tapetenkleister werde.

Das Rezept für die Slanted Door Spring Rolls, also Shrimps, Schweinefleisch, Reisnudeln und Minze im nicht frittierten Reisblatt, stammt von Phans Mutter. Sie habe immer wieder daran gearbeitet, etwa Schalottenöl und etwas Mayonnaise zugefügt, vor allem aber mit der Erdnusssauce experimentiert, bis sie genau richtig war und nicht nur nach der Standardmarke Skippy schmeckte. Bis heute ist das Gericht auf der Karte. Und tatsächlich ist der Dip ein überaus gelungener Balanceakt zwischen Nussfülle und Leichtigkeit.

„Essen muss in einer Kultur und ihren Geschichten wurzeln“

Auch die Maiskörner als Gemüse sind hier ein neues Erlebnis, weil sie eine dezente Süße von Trompetenpilzen, Sesam und Frühlingszwiebeln balancieren. Selbst so klischeebehaftete Kombinationen wie jalapeño-scharfer Tintenfisch mit roter Paprika und frischer Ananas wirken alles andere als kitschig. Potentielle Sterneküche wie wilder kalifornischer Seeigel mit Tobiko-Rogen auf ein wenig Avocado und Gurke fügt sich mühelos ins entspannte Gesamtbild. „Essen muss in einer Kultur und ihren Geschichten wurzeln“, sagt Phan, „nicht in irgendwelchen komischen Märchen und Klischees.“

Das ist die California Cuisine der Gegenwart: das kreative Aufeinandertreffen von wirtschaftlicher Realität, kultureller Identität und unbeugsamem Qualitätsanspruch an Herkunft und Geschmack. Wenn der Journalist und Autor Bill Buford vor kurzem in der Zeitschrift „New Yorker“ ausführlich darüber berichtete, wie er mit dem Starkoch Daniel Boulud französische Klassiker wie Canard à la presse zubereitet, dann ist das ein nostalgisch-neugieriger Blick zurück – die amerikanische Gastrowirklichkeit hat sich längst das einst kalifornische Ideal zu eigen gemacht.