Medizin

Es muss nicht gleich das Skalpell sein

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Standortbestimmung in Berlin: Noch immer erhalten zu wenige Patienten mit Rückenschmerzen eine sanfte Medizin.

Die Orthopäden sehen sich dem hartnäckigen Vorwurf ausgesetzt, zu viel zu operieren. Lange Zeit standen vor allem die hohen Versorgungszahlen für Hüfte und Knie in der Kritik, inzwischen ist es die Vielzahl an Wirbelsäulenoperationen. Während die Implantation von Hüft- und Kniegelenken seit fünf Jahren auf hohem Niveau stagniert, haben sich die Wirbelsäulenoperationen in den vergangenen acht Jahren mehr als verdoppelt. Nach einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion vom vergangenen August wurden im Jahr 2011 insgesamt 734 644 Eingriffe an der Wirbelsäule vorgenommen. Im Jahr 2005 waren es „nur“ 326 962 Operationen. Die Daten aus einem Versorgungsatlas der Krankenkasse AOK malen ein ähnliches Bild.

Der diesjährige Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie in Berlin reagiert auf die Vorwürfe mit einem Plädoyer für die konservativen Verfahren. Die Patienten sollten erst dann operiert werden, wenn die Möglichkeiten der Physio- und Schmerztherapie ausgeschöpft seien, sagte Bernd Kladny, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie in Berlin. Mit Kladny steht zum ersten Mal kein operativ tätiger Orthopäde an der Spitze der einflussreichen Fachgesellschaft, sondern der Chefarzt einer Rehabilitationsklinik in Herzogenaurach.

Alles eine Frage der Bezahlung

Nach der Zusammenführung von Orthopädie und Unfallchirurgie habe es eine Überbetonung der Chirurgie gegeben, räumt Kladny im Gespräch ein. Für ihn ist der Griff zum Skalpell nur die zweite Wahl. „Wer nur operieren lernt, wird auch nur operieren.“ Daher müsse bei der Weiterbildung zum Facharzt mehr Wissen zu konservativen Behandlungsverfahren vermittelt werden, so Kladny weiter. Ähnlich hat sich Mitte des Jahres auch der Deutsche Ärztetag geäußert. Es wurde beschlossen, die Vermittlung konservativer Verfahren überall dort zu stärken, wo sowohl konservativ behandelt als auch operiert wird. Kladny plädierte zudem für eine angemessene Vergütung konservativer Verfahren. „Wenn die Behandlung eines Patienten langer als drei Monate nicht besser bezahlt wird als ein Haarschnitt“, sagte er, „erschwert dies eine vernünftige konservative Behandlung.“ Außerdem bestehe die Gefahr, dass die Ärzte die Kosten für Medikamente und Physiotherapie wegen der Überziehung ihres Budgets selbst bezahlen müssen.

Ein Schwerpunkt des diesjährigen Kongresses bildete auch die Versorgung der bis zu 35 000 Schwerverletzten in Deutschland. Dass das Niveau hierzulande recht hoch ist, hat mit den Traumanetzwerken und dem Traumaregister der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zu tun. Das Traumaregister besteht seit zwanzig Jahren. Zum Jahresende werden sich alle an der Schwerverletzten-Versorgung beteiligten Kliniken einem der 39 regionalen Traumanetzwerke angeschlossen haben und ihre Daten an das Traumaregister melden. Damit wird es in Deutschland erstmals eine repräsentative Darstellung der gesamten Schwerverletzten-Versorgung geben.

Dabei waren die Anfänge des Traumaregisters durchaus holprig. In den ersten Jahren wurden lediglich einige Hundert Datenblätter per Hand eingegeben. Noch vor acht Jahren lag die Registrierung unter zehn Prozent. Die Meldungen schnellten erst mit der Einrichtung der Traumanetzwerke in die Höhe. Die daran beteiligten Kliniken müssen die von ihnen versorgten Schwerverletzten an das Traumaregister melden. Finanziert wird das Register über die Beiträge der involvierten Kliniken. Derzeit nehmen 572 deutsche sowie einige ausländische Krankenhäuser aktiv an der Registrierung teil. Im Jahr 2012 wurden knapp 29 000 Meldungen abgegeben. „In den neunziger Jahren starb etwa jeder Vierte an den Folgen seiner schweren Verletzungen. Heute überleben neun von zehn Schwerverletzten“, sagte Reinhard Hoffmann von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie über die Bilanz der Versorgung in Deutschland.

Erfahrungen mit dem Traumaregister

Die Erfolge führt Hoffmann auf den Vergleich der Kliniken untereinander und die Registerforschung zurück. Das Traumaregister bietet den teilnehmenden Kliniken jederzeit die Gelegenheit, sich online über ihre Ergebnisse zu informieren. Einmal jährlich erhalten die Krankenhäuser zudem einen individuellen Jahresbericht, in dem ihre Resultate mit den Referenzwerten anderer Kliniken verglichen werden. Eine Klinik sehe dadurch, wo sie im bundesweiten Vergleich stehe, und sei so in der Lage, ihre Abläufe gezielt zu verbessern, sagte Hoffmann weiter. Durch die Auswertung der Registerdaten habe man zum Beispiel gelernt, dass mehr Schwerverletzte überleben, wenn im Schockraum frühzeitig eine Ganzkörper-Computertomographie gemacht werde und wenn Rettungshubschrauber zum Einsatz kämen. Allerdings hat sich die Zeit zwischen dem Unfall und der Aufnahme in die Klinik seit dem Jahr 2001 nicht reduziert. Sie liegt nach wie vor im Schnitt bei 71 Minuten.

Die Orthopäden wollen ihre Versorgungsqualität mit dem Endoprothesenregister verbessern, in das zurzeit die ersten realen Daten eingegeben werden. An dem Probebetrieb nehmen vierzig Kliniken teil. Vierzig weitere Kliniken stellen gerade ihre Systeme auf die Registrierung um. Im kommenden Jahre werden weitere 150 Kliniken hinzukommen. Vierhundert der knapp 1200 Kliniken, die hierzulande Prothesen implantieren, haben bereits Interesse bekundet. Die Teilnahme ist freiwillig. Joachim Hassenpflug vom Universitätsklinikum Schleswig Holstein, Campus Kiel und Geschäftsführer der Register-GmbH, hält nichts von einem Zwangssystem. „Mit einer Teilnahmepflicht stünden wir heute nicht da, wo wir stehen“, sagte er im Gespräch. Hassenpflug glaubt nicht, dass sich die Kliniken auf Dauer der Registrierung entziehen können, weil die Öffentlichkeit diese Daten einfordern wird. Zugzwang entsteht auch durch das seit einem Jahr angebotene Zertifizierungssystem Endocert der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie. Wer dort mitmachen will, muss nicht nur spezielle Anforderungen an die Ausstattung und die Sachkunde der Ärzte erfüllen, sondern seine Daten auch an das Endoprothesenregister melden.

Register mit wenig Aufwand

Für die Registrierung müssen die Kliniken den Barcode aller implantierten Komponenten ablesen, einige Fragen beantworten und die Datensätze in verschlüsselter Form an die Registerstelle senden. Dort werden sie mit den pseudonymisierten Patientendaten der Krankenkassen und einer weltweit einzigartigen Produktdatenbank abgeglichen. Über die fortlaufend aktualisierte Produktdatenbank kann jede implantierte Prothese genau identifiziert werden. Dadurch werden Materialschwächen schnell zu erkennen sein. Die betroffenen Patienten können dann kontaktiert und über die Probleme mit ihrer Prothese informiert werden. Aus dem Endoprothesenregister wird man auch ablesen können, welche Kliniken die eingebauten Implantate rascher wechseln müssen als andere Kliniken. Nach einer Einarbeitungsphase sei der Aufwand für die beteiligten Einrichtungen gering, erklärt Hassenpflug, weil einige Daten direkt aus der Software der Kliniken herausgefiltert werden. Er ist auch der Ansicht, dass man mit dem Endoprothesenregister eine strukturierte Einführung von Implantaten begleiten könnte. Derzeit kann jedes Implantat, das eine CE-Kennzeichnung erhalten hat und damit für den deutschen Markt freigegeben worden ist, sofort und überall verwendet werden. Es spricht einiges dafür, neue Implantate zuerst in wenigen Kliniken testen zu lassen. Das Endoprothesenregister könnte die notwendige Auswertung übernehmen. Allerdings hat jedes Register auch Grenzen. Man kann damit nicht feststellen, ob die Operation überhaupt nötig gewesen wäre. Den Vorwurf, zu schnell zum Skalpell zu greifen, können die Ärzte mit einem Register nicht entkräften.

Eine Sitzung beschäftigte sich auch mit der Unzufriedenheit vieler Patienten nach einem Kniegelenkersatz. Jörg Jerosch vom Johanna-Etienne-Krankenhaus in Neuss nannte überzogene Erwartungen als wichtige Ursache. Die Zufriedenheit hänge nicht von dem Prothesenmodell, dem Operationsverfahren oder dem gewonnenen Bewegungsumfang ab, sondern davon, ob das erreicht worden sei, was dem Patienten vor der Operation versprochen worden sei, so Jerosch in seinem Vortrag in Berlin. In der Vergangenheit seien von den Herstellern und Zeitungen immer überzogenere Bilder vom Leben mit einem Kunstgelenk gezeichnet worden. Er verwies auf Fotos von Senioren, die mit einem künstlichen Kniegelenk Ski fahren oder einen Marathonlauf bestreiten. Aber auch die Ärzte hätten eine Mitschuld an den überzogenen Erwartungen, so Jerosch in Berlin. Viele würden klare Aussagen vermeiden, damit sie keinen Patienten an eine andere Klinik verlieren. Der Orthopäde nannte einige realistische Ziele. Die Zeit bis zur vollen Rekonvaleszenz dauere nicht vier, sondern sechs Monate. Nur jeder zweite Patient sei mit einem künstlichen Kniegelenk völlig schmerzfrei. Nur vierzehn Prozent der Patienten würden nach fünf Jahren alle Aktivitäten wie erwartet ausüben können. Und: Viele ältere Patienten hätten dauerhaft Schwierigkeiten, mit dem künstlichen Kniegelenk auf unebenem Boden zu gehen.