Gesellschaft

Die irren, die Briten

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Eine Untersuchung in Großbritannien fördert zutage, wie sehr die öffentliche Meinung bei brisanten sozialen Themen wie Sozialbetrug oder Verbrechenshäufigkeit falsch liegt. In Deutschland dürfte es nicht anders aussehen.

Themen wie Kriminalität oder Sozialbetrug sind Bereiche, die Stimmungen in Staaten beeinflussen und sogar Wahlen entscheiden können. Zu dumm nur, dass die öffentliche Meinung in der Einschätzung brisanter Themen allzu oft weit von der Realität entfernt ist, wie jetzt eine Studie der Königlichen Statistischen Gesellschaft und des Londoner King’s College belegt.

Laut der von dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos Mory per Telefonumfrage ermittelten Untersuchung unter 1015 Menschen zwischen 16 und 75 Jahren verschätzen sich die Briten bei ihrer Wahrnehmung von Sozialbetrug, Migration, Verbrechenshäufigkeit oder Teenager-Schwangerschaften gewaltig.

Gravierender Unterschied zwischen Glauben und Realität

So glaubt der Durchschnitt der Briten, dass 24 von 100 Pfund an Sozialhilfe durch Betrug ergaunert werden. Laut offiziellen Schätzungen sind es indes nur 70 Pence. Während die Briten einen Anteil von 31 Prozent an Immigranten in der Bevölkerung vermuten, sind es statistisch inklusive illegaler Einwanderer lediglich 15 Prozent. Während mehr als die Hälfte der Briten an gleichbleibende oder gar steigende Zahlen von Verbrechen und Gewaltverbrechen glaubt, stellt die Polizei seit 2006/07 jeweils einen Rückgang von gut 20 Prozent fest.

Besonders gravierend ist der Unterschied zwischen Realität und Wahrnehmung bei einem der in England meistdiskutierten sozialen Themen: Nur 0,6 Prozent der Mädchen unter 16 Jahren werden schwanger. Die Befragten schätzten den Anteil an Teenager-Schwangerschaften aber auf 16 Prozent.

Ähnlich schwerwiegende, für soziale Neiddebatten geeignete Fehleinschätzungen treffen die Ausgabenpolitik der Regierung für Entwicklungshilfe und Arbeitslosenhilfe. In der britischen Bevölkerung herrscht die Meinung vor, dass die Hilfen für bedürftige Staaten einer der drei kostenintensivsten Posten im Haushalt des Vereinigten Königreichs ist. In Wahrheit machen diese Ausgaben aber nur 1,1 Prozent aus. Und während die Bevölkerung davon ausgeht, dass der Staat mehr Geld für Arbeitslosenhilfe ausgibt als für Renten, verschlingen die Renten in Wahrheit mehr als 15 mal so viel Geld.

Vergleichbare Lage in Deutschland

Hetan Shah, Direktor der Königlichen Statistischen Gesellschaft, zieht aus den Ergebnissen Schlussfolgerungen für Politiker. „Wie kann man eine gute Politik entwickeln, wenn die öffentliche Wahrnehmung so weit entfernt ist von der Wirklichkeit? Politiker müssen besser über den wirklichen Zustand des Landes reden, statt Zahlen zu verdrehen. Und zweitens müssen Medien Themen tiefgreifend beleuchten statt Statistiken sensationsheischend zu verwenden.“

In Deutschland dürfte sich die Lage übrigens nicht gravierend anders darstellen, wie der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim glaubt: „Das ist bei uns weitgehend auch so.“ Die öffentliche Wahrnehmung werde durch den Trend der Medien zum Negativen beeinflusst. „Bei der allgemeinen Wirtschaftslage, der Sicherheit der Renten oder dem Kriminalitätsniveau wird die gesellschaftliche Entwicklung als problematisch eingeschätzt. Auf der privaten Ebene sagt man dagegen in denselben Bereichen: Alles überhaupt kein Thema.“