
Beim EU-Gipfel in Brüssel herrschte beträchtlicher Ärger über die Abhörung durch die Amerikaner. Trotzdem wollten die Europäer eine politische Eskalation verhindern.
Eine Frage, die am Donnerstag und Freitag auf dem EU-Gipfel in Brüssel besonders oft gestellt wurde, lautete: „Wird Ihr Telefon eigentlich auch abgehört?“ Die Antwort, die die einzelnen Staats- und Regierungschefs darauf gaben, war stets dieselbe, und sie zeigt, wie wenig die politische Führung Europas den Verbündeten in Amerika noch über den Weg trauen kann: Der französische Präsident François Hollande, der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann – sie alle konnten nur sagen, dass sie zumindest keine Hinweise darauf hätten. Hundertprozentig sicher war sich keiner.
Der NSA-Skandal stand eigentlich nicht auf der Tagesordnung dieses Europäischen Rats, auch wenn man sich allgemein mit Fragen des Datenschutzes und der digitalen Ökonomie befassen wollte. Dass nun aber offenbar die mächtigste Frau im Saal höchstpersönlich von den Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks ausgespäht wird, führte doch zu längeren Aussprachen. Gleich zu Beginn der Beratungen setzen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und Hollande zusammen, um ein gemeinsames Vorgehen zu vereinbaren. Das war nicht unbedingt eine Wiederbelebung des jüngst so oft stotternden deutsch-französischen Motors, sondern vor allem eine Schicksalsgemeinschaft: Die Franzosen hatten vor ein paar Tagen zu erfahren gehabt, dass die Telefonate ihrer Bürger anscheinend millionenfach von der NSA abgehört werden.
Die gemeinsame Position trug beim Abendessen zunächst Hollande den anderen Staats- und Regierungschefs vor. Sie umfasste, so war hinterher zu erfahren, im wesentlich drei Punkte: Geheimdienstliche Aufklärung sei wichtig und legitim, daran sollte bei aller Empörung kein Zweifel bestehen- aber es müsse schon ein Unterschied zwischen (potentiellen) Terroristen und langjährigen Verbündeten gemacht werden- und man müsse nun darauf achten, dass die Sache politisch nicht außer Kontrolle gerate, man müsse dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama nicht auch noch Salz in die Wunde reiben. Merkel leistete sich in diesem Zusammenhang einen kleinen Seitenhieb auf den britischen Premierminister David Cameron, als sie darauf hinwies, dass es sich auch für Europäer nicht gehöre, Freunde auszuspähen. Sie erinnerte daran, dass man zum Beispiel gemeinsam in Afghanistan im Felde stehe. „Unsere Soldaten sterben in den gleichen Gefechten“, formulierte sie das später vor der Presse.
Merkel will weiter über Freihandelsabkommen sprechen
Im Sitzungssaal habe beträchtlicher Ärger über die Amerikaner geherrscht, berichteten Diplomaten. Aber die meisten seien doch auch der Ansicht gewesen, dass man die transatlantischen Beziehungen deshalb nicht allzu sehr belasten dürfe. Cameron, dessen Dienste im Verdacht stehen, in Belgien, Italien und anderswo spioniert zu haben, und dessen Land eine Geheimdienstallianz mit Amerika pflegt, sei es besonders darum gegangen, Obama nicht allzu sehr an den Pranger zu stellen. Er habe dafür plädiert, das Augenmerk auf die Zukunft zu richten, nicht auf die Vergangenheit. Vor der Presse wollte sich der Brite gar nicht zur Geheimdienstarbeit äußern. Nur so viel: Er sei sehr zufrieden mit den britischen Spionen, das seien die talentiertesten und klügsten Leute.
Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) hatte von den Staats- und Regierungschefs gefordert, wegen der jüngsten Weiterungen der NSA-Affäre die laufenden Verhandlungen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten über ein Freihandelsabkommen auszusetzen. Das wurde in der Runde dem Vernehmen nach nicht ernsthaft erwogen. Kommissionspräsident José Manuel Barroso vertritt dazu schon seit längerem die Ansicht, die Europäer würden sich mit einer solchen Trotzreaktion am Ende selbst schaden, weil ihnen das Abkommen große wirtschaftliche Vorteile verspreche.
Merkel sagte vor der Presse, in einer solch angespannten Situation sei es sehr wichtig, weiter miteinander zu sprechen. Und sie äußerte Zweifel daran, dass man einmal abgebrochene Verhandlungen einfach wiederaufnehmen kann: „Wer rausgeht, muss wissen, wie er wieder reinkommt.“ Offen ließ die Kanzlerin dagegen die Zukunft des sogenannten Swift-Abkommens, dessen Aussetzung eine Mehrheit der Abgeordneten im Europaparlament fordert. In diesem Abkommen hat die EU den Amerikanern zur Terrorismusbekämpfung die Auswertung europäischer Banküberweisungen gestattet. Sie werde sich ansehen, was man dabei „für unsere Bürger verlieren könnte“, sagte Merkel. Wenn sie ihren Innenminister fragt, dann wird er ihr vermutlich sagen, dass das Swift-Abkommen auch der deutschen Polizei interessante Hinweise liefert, weil die Amerikaner ihre Erkenntnisse laut Vertragstext nämlich mit den Europäern teilen müssen.
Kein gemeinsames Vorgehen vereinbart
Am Ende des Abendessens einigte man sich schließlich auf eine knappe öffentliche Erklärung, deren Wortlaut das Bemühen widerspiegelt, mit den Amerikanern zu einem neuen Miteinander zu kommen, das Kind aber nicht mit dem Bade auszuschütten. So steht nicht in dem Text, dass die Staats- und Regierungschefs wegen der „jüngsten möglichen Aufklärungsfragen“ besorgt wären. Sie weisen nur darauf hin, dass ihre Bürger Sorgen hätten. In der Codesprache der Diplomatie ist das eine sehr milde Rüge für Obama. Zugleich aber findet sich der Hinweis, dass die enge Freundschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten auf „Respekt und Vertrauen“ begründet sein müsse, was Merkel schon seit längerem sagt. „Ein Mangel an Vertrauen könnte die nötige Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Aufklärung beschädigen“, wird festgehalten.
Ein gemeinsames Vorgehen der EU gegenüber der amerikanischen Regierung wurde nicht vereinbart. Das liege auch daran, dass Geheimdienstarbeit keine Gemeinschaftskompetenz sei, hieß es von EU-Beamten. Stattdessen erklärten Deutschland und Frankreich, dass sie jeweils bilateral mit den Amerikanern „ein Einverständnis über die gegenseitigen Beziehungen auf diesem Gebiet“ finden wollen, was bis Ende des Jahres geschehen soll. Hollande buchstabierte das vor der Presse so aus: Er wolle einen Verhaltenskodex, in dem etwa festgelegt werde, dass man nicht die Mobiltelefone von Personen abhöre, die man auf internationalen Gipfeln treffe, oder dass man einander darüber informiere, wenn man Überwachungen vornehme. Andere EU-Länder könnten sich ihrer Initiative anschließen, hoben Merkel und Hollande hervor. Öffentlich tat das zunächst niemand, aber anderen Mitgliedstaaten scheint die NSA ja auch nicht so sehr nachzustellen wie Deutschland und Frankreich.
Merkel wurde noch gefragt, ob sie denn den Eindruck habe, dass Obama im Telefonat mit ihr die Botschaft verstanden habe. Nun ja, der amerikanische Präsident sei immer gut vorbereitet auf Gespräche, erwiderte sie, was wohl heißen sollte, dass sie noch nicht allzu viel ausrichten konnte. Auf alle Fälle gebe es eine lange gewachsene Partnerschaft mit Amerika, die immer wieder „unterschiedliche Meinungen“ ausgehalten habe. Erwarte sie eine Entschuldigung? „Es geht nicht nur um gute Worte, sondern um wirkliche Veränderungen“, antwortete sie. Und schließlich wollte die Presse noch wissen, ob sie bei ihren Telefonaten je frei gesprochen habe oder ohnehin damit gerechnet habe, dass jemand mitschneide. „Jeder, der mit mir redet, hört im Grundsatz immer das Gleiche.“
