Klima

Was lesen Sie aus dem Eis, Monsieur?

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Der Eismann aus Paris: Jean Jouzel findet in der Arktis den Schlüssel zur Erdgeschichte. Ein Gespräch über das Gespür für Eis, die Zukunft der Arktis und Kinder als Umweltschützer.

Jean Jouzel wartet vor der Steinpforte des Forschungsministeriums in Paris. Im Bistro gegenüber bestellt er einen kleinen Schwarzen und sagt: „Schön, dass Sie da sind.“

Sie kennen wahrscheinlich Peter Høgs Kriminalroman „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“. Der dänische Schriftsteller erzählt darin, wie eine Wissenschaftlerin mit Hilfe ihrer Kenntnisse über die verschiedenen Strukturen des Schnees einen Mordfall aufdeckt.

Ich habe von der Geschichte gehört, das Buch aber noch nicht gelesen. Ich denke, ich werde es mir endlich mal besorgen müssen.

Ihre Kollegen unter den Meteorologen und in der Klimaabteilung des Centre national de la recherche scientifique, des CNRS in Paris, behaupten, Dr. Jouzels Gespür für Eis sei legendär. Was bedeuten Schnee und Eis für Sie?

Mich hat das Eis schon immer interessiert. Mich fasziniert, dass es ein Tresor ist, ein Archiv der Natur, das wir nur öffnen müssen, um in die Vergangenheit des Planeten, aber auch in unsere Zukunft blicken zu können. Glaziologie ist längst eine interdisziplinäre Wissenschaft geworden, in der Geologie, Geographie, Hydrologie und Meteorologie zusammenkommen. Vor allem für die Klimatologie ist sie eine fast unerschöpfliche Datenquelle. Wir lesen im Eis wie in einem Buch, und es ist ein Buch, das viele Lehren bereithält. Wir machen uns zunutze, dass es eine wissenschaftlich nachgewiesene Beziehung gibt zwischen den Temperaturschwankungen auf unserem Planeten und den Eisstrukturen, die wir heute in den Polargebieten noch vorfinden. Diese Beziehung untersuchen wir und ziehen aus den höchst interessanten Ergebnissen Schlüsse, die wir – zum Beispiel – auch an die Politik weiterreichen.

Was lesen Sie konkret aus dem Eis?

Wir können aus der Beziehung zwischen den auf dem Planeten herrschenden Temperaturen und der Eisstruktur Rückschlüsse auf das Klima in Vergangenheit und Zukunft ziehen. Wir können in Staubablagerungen das Datum und die Herkunft der Verunreinigung untersuchen, wir können auf das Ausmaß und den Ort von Vulkanausbrüchen schließen, wir können Naturkatastrophen verschiedenster Art rekonstruieren, und wir können den Verschmutzungsgrad der Atmosphäre während bestimmter Erdzeitalter einschätzen. Dieses Wissen ist im Eis gespeichert.

Aber nur, solange das Eis noch da ist. Einer Ihrer Kollegen, der Ozeanograph Wieslaw Maslowski von der Marinehochschule im kalifornischen Monterey, hat vor kurzem erklärt, dass die Arktis – eines Ihrer Spezial- und Hauptforschungsgebiete – zumindest im Sommer des Jahres 2016 komplett eisfrei sein könnte. Müssen Sie sich also beeilen, wenn Sie noch wissenschaftlichen Nutzen aus dem Polareis ziehen wollen?

Es gibt verschiedene Theorien, was das Verschwinden des Arktik-Eises anbetrifft. Die einen, wie Maslowski, fürchten, dass es sehr schnell gehen und das Eis während des Sommers vielleicht nur noch wenige Jahre halten wird. Ich selbst neige eher dazu, die Schmelzdauer auf einige Jahrzehnte zu veranschlagen, bis 2050 etwa – so wie viele andere meiner Kollegen auch.

Sie leiten als Forschungsdirektor das Institut Pierre Simon Laplace, in dem „globale Änderungsprozesse“ untersucht werden. Was tun Sie und Ihre Kollegen, um diese Veränderungen zu erkennen und zu bewerten?

Wir bohren im Eis, und mit den dabei gewonnenen zahlreichen Eisbohrkernen – wir nennen sie in Frankreich einfach Karotten, das Bohren nennen wir „carottage“ – arbeiten wir. Diese Bohrkerne sind ein sehr genaues und umfangreiches Archiv, das wir nach und nach auszuwerten haben. Sie sind im Lagerhaus einer großen Schlachterei auf Grönland untergebracht: Unter unserer wissenschaftlichen „Produktion“, den Eiskarotten im ersten Stock, hängen im Erdgeschoss Rinderviertel und Schweinehälften. Die Auswertung erfordert präzise Arbeit. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben. Denn Fehler, etwa wie jene Vorhersage, dass Holland demnächst unter Wasser stehen könnte, wirken sich in der praktischen Politik meist katastrophal aus.

Für die Erforschung dieser Bohrkerne sind Sie im Jahr 2002 mit der Goldmedaille des CNRS ausgezeichnet worden, dem höchsten französischen Preis in Ihrer Disziplin. Ihre größte Ehrung war aber der Friedensnobelpreis, den der UN-Klimarat, das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), 2007 zusammen mit dem ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore in Empfang nehmen durfte.

Ja, das hat mich stolz gemacht. Ich war damals Vizepräsident des IPCC und Autor der Klimaberichte 2 und 3, am vierten Sachstandsbericht war ich dann abermals verantwortlich beteiligt, und ich arbeite auch aktuell für den nächsten Bericht. Der Nobelpreis, wenn er auch nicht direkt für eine wissenschaftliche Einzelleistung vergeben wurde, sondern für einen Beitrag zum Frieden auf der Erde, war eine Anerkennung, die wir Klimaforscher, die Ozeanographen, die Meteorologen brauchten. Sie hat unsere Arbeit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Wir wurden, gemeinsam mit Al Gore, aus 510 Nominierungen ausgewählt.

Das verpflichtet, nicht wahr?

Ganz gewiss. Es verpflichtet in höherer Weise zu jener Arbeit, für die uns der Preis zugesprochen wurde. Wir müssen dem gerecht werden, was man von uns erwartet: Informationen und genaue Analyse dessen, was diesen Planeten bedrückt. Und was wir ihm schuldig sind. Das ist am Ende auch eine Frage der wissenschaftlichen Ehre.

Geht das über Zahlen, Statistiken und rein wissenschaftliche Erkenntnis hinaus?

O ja. Man entwickelt ein Denken, das weit über die Tagesergebnisse und die Tagespolitik hinauszielt. Am Ende steht an herausragender Stelle die Moral: Wir werden die Klimaveränderung nicht vermeiden können, aber wir müssen als Forscher unser Bestes tun, um die entscheidenden Informationen für eine moralisch vertretbare Bewirtschaftung des Planeten an die Politik liefern zu können. Das sind wir der Menschheit schuldig. Unsere Botschaft lautet: Wir müssen alles vermeiden, was den Planeten in Schwierigkeiten bringt.

Wir wurden kürzlich von der Nachricht aufgeschreckt, dass ein amerikanisch-russisches Konsortium mehrere Milliarden Dollar in die Ausbeutung der Arktis investieren will. Es geht um Erdöl und wahrscheinlich auch um Erdgas – also um das, was auf dem weltweiten Energiemarkt immer schwerer zu bekommen und daher immer teurer zu verkaufen sein wird. Hat Sie die Nachricht erschreckt?

Ich will es so sagen: Ich habe Vertrauen in die Energiepolitik der Europäer. Ich freue mich, dass meine Kollegen in Deutschland immer mehr auf erneuerbare Energie setzen und dass die Politik ihnen seit einiger Zeit dabei folgt. Ich persönlich hoffe sehr, dass die Deutschen diesen Kurs werden halten können. Auch wir in Frankreich haben ziemlich schnell losgelegt, und ich hoffe, dass wir nicht plötzlich gebremst werden, sondern die begonnenen Projekte fortsetzen können. Was nun die Nachricht von einer möglichen Ausbeutung der Ressourcen in der Arktis anbetrifft: Das macht mir als Forscher tatsächlich zu schaffen, ich bin äußerst besorgt. Es geht dabei nicht einmal vordringlich um die technischen Risiken – die sind sicher auch vorhanden. Es geht hauptsächlich um die psychologischen Folgen solcher Aktionen, also die Nachricht, dass so etwas überhaupt passieren könnte. Danach erst um die mögliche Verwirklichung eines solchen Projekts. Sehen Sie, die Arktis hat hohen Symbolwert für die Menschheit. Wir stellen uns die Frage: Dürfen wir im Rahmen der Erforschung des Planeten wirklich an jedem Ort, in jeder Region, wo das technisch möglich ist und von wirtschaftlichem Profit gekrönt werden könnte, die Ausbeutung vorhandener Bodenschätze vorantreiben? Dürfen wir überall bis an die Grenzen des Möglichen gehen? Zumal in den Eisregionen, wo sich die Veränderungen zweimal so schnell vollziehen wie in den übrigen Regionen der Erde? Dürfen wir das?

Am selben Tag, an dem das National Snow and Ice Data seine Zahlen über das Grönlandeis veröffentlichte, war in einigen europäischen Zeitungen zu lesen, dass die Wirtschaftsmacht China Probleme mit der Durchsetzung ihrer „grünen Energiepolitik“ habe. „Der Sektor Grüne Technologie wird von Spekulationsblasen bedroht“, hieß es in „Le Monde“. Die chinesischen Behörden ließen schon vorsorglich Zeitungsmeldungen verbreiten, wonach das Land den Bau von Windrädern in weiten Teilen des Landes vorläufig eingestellt habe.

Ja, das habe ich auch gelesen. Es scheint, dass sogar solche Projekte unter unverantwortlicher Börsenspekulation leiden.

Die Finanzmärkte bedrohen das Klima?

Ich bin kein Wirtschaftsexperte, und der von Ihnen zitierte Satz machte nur einen kleinen Teil des Artikels aus. Die Überschrift lautete „Nouveau coup de pouce aux entreprises vertes“ – neuer Anschub für die Grüne Energie. Der Staat übernimmt in China Anteile an der Produktion von sauberer Energie. Das ist zunächst doch eher positiv, oder? Doch zurück zur Arktis: Es ist unglaublich wichtig, was immer auch dort passieren wird, dass wir Wissenschaftler in der Arktis bleiben und die sich beschleunigende Entwicklung beobachten.

Sie werden nach dem Ende unseres Gesprächs in die Provinz aufbrechen und vor Schulkindern und Erwachsenen zum Thema Klima und Umwelt sprechen. Gehört das ebenfalls zu dem, was Sie unter dem Stichwort Moral versammeln?

Das Interesse an unserer Arbeit und deren Ergebnissen ist in den vergangenen Jahren gewaltig gestiegen. Das zeigt, dass sie eine moralische Dimension erreicht hat. Meine kleinen und großen Zuhörer sind überzeugte Umweltschützer – und in der Regel sehr gut informiert.

Was bedeutet diese sicher anstrengende Freizeitbeschäftigung Ihnen persönlich?

Meine Vorträge in der Öffentlichkeit und in Schulen helfen mir, meine Arbeit aus einer anderen Perspektive zu sehen: der eines Bürgers. Die Beiträge und Fragen, selbst die Vorwürfe, die gegen unsere Prognosen erhoben werden könnten, erneuern meine Motivation. Es sind Ausflüge, die hinausführen aus der Theorie, hinaus auf das harte Pflaster der täglichen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Wir müssen unbedingt unsere Freiheit als Forscher schützen, aber wir brauchen genauso sehr den Kontakt mit der Öffentlichkeit.

Und welche Rolle spielt die Politik am Ende?

Die Ergebnisse dieser Arbeit in Politik umzusetzen ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe lautet heute – das wird immer wichtiger -, die Politik mit den bestmöglichen, weil präzisen Informationen zu versorgen. Wir wurden bisher immer eingeladen zu den Klimakonferenzen, ich persönlich wurde bisher immer eingeladen – zu allen Konferenzen seit zehn Jahren. Das heißt, dass die Politik begriffen hat, dass sie unsere Arbeit braucht, um den Planeten mit möglichst weisen Entscheidungen vor noch größerem Schaden zu bewahren. Das gilt übrigens auch für die im Zusammenhang mit China erwähnten Ökonomen. Meiner Ansicht nach brauchen wir auch auf diesem Sektor die besten, weil präzisen Informationen, damit aus diesen Informationen zunächst Erkenntnisse werden, danach eine tragfähige Philosophie und am Ende vielleicht moralische Politik.

Wie lange werden Sie in Grönland noch arbeiten können? Was wird aus der Arktis, wenn das Eis nicht mehr da sein wird?

Es gibt dort noch viel zu erforschen, auch ohne Eis. Fragen Sie die Ozeanographen, die Meteorologen, die Geologen. Uns interessiert beispielsweise die Frage, warum Grönland früher kleiner war als jetzt. Und wenn ich das von Ihnen erwähnte Buch über „das Gespür für Schnee“ erst gelesen haben werde (lacht), dann könnten sich mir vielleicht Fragen stellen, die ich bisher noch gar nicht in Erwägung gezogen hatte. Wer weiß?