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Unter Vorbehalt

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Das Verfassungsgericht verlangt, dass die deutsche Auslegung des ESM-Vertrags völkerrechtlich fixiert wird. Ob das funktioniert, ist noch ungewiss.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Beitritt zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gebilligt. Die Vereinbarkeit des ESM-Vertragsgesetzes mit dem Grundgesetz beruht jedoch auf der Annahme einer grundgesetzkonformen Auslegung des ESM-Vertrags. Der Vertrag lässt, wie das Gericht selbst feststellt, auch nicht verfassungskonforme Auslegungen zu. Deshalb wird der Bundesregierung aufgetragen, die verfassungsrechtlich gebotene Auslegung auch völkerrechtlich sicherzustellen. Dies soll durch Vorbehalte bei der Vertragsratifizierung geschehen. Das Gericht betont gleich zweimal, dass „die Bundesrepublik Deutschland deutlich zum Ausdruck bringen muss, dass sie an den ESM-Vertrag insgesamt nicht gebunden sein kann, falls sich der von ihr geltend gemachte Vorbehalt als unwirksam erweisen sollte.“ Dies gibt Anlass zur Frage, ob sich die deutsche Auslegung durch Vorbehalte völkerrechtlich überhaupt festschreiben lässt.

Bei einem „Vorbehalt“ zu einem völkerrechtlichen Vertrag handelt es sich um eine wie auch immer formulierte oder bezeichnete, von einem Staat abgegebene einseitige Erklärung, durch die der Staat bezweckt, die Rechtswirkungen einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf sich auszuschließen oder zu ändern. Ein solcher Vorbehalt kann bei der Ratifikation des Vertrags angebracht werden. Zulässigkeit, Gültigkeit und Rechtswirkungen von Vorbehalten werden in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) geregelt. Die Konvention ist jedoch auf den ESM-Vertrag nicht unmittelbar anwendbar, da nicht alle 17 Staaten der europäischen Währungsunion Vertragsparteien der WVK sind. Eine Anwendung von Vorschriften der WVK kommt nur insoweit in Betracht, als diese Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln. Dies ist aber gerade bei den Vorschriften über Vorbehalte nicht unumstritten. Auch lassen diese Vorschriften teilweise mehr Fragen offen, als sie beantworten. Diese Lücken sollte der im August 2011 von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen verabschiedete „Praxisleitfaden für Vorbehalte gegen Verträge“ schließen. Dieser ist jedoch völkerrechtlich nicht verbindlich und wurde zum Teil heftig kritisiert. Hier ergeben sich also erste Unsicherheiten.

Selbst wenn man jedoch die WVK und den Praxisleitfaden den Überlegungen zugrunde legt, besteht für die Bundesrepublik Deutschland keine absolute Sicherheit, dass ihre Auslegung des ESM-Vertrags verbindlich wird. Der ESM-Vertrag enthält keine Bestimmung über Vorbehalte. Ein deutscher Vorbehalt wäre danach nur dann zulässig, wenn er mit Ziel und Zweck des ESM-Vertrags vereinbar ist. Zweck des ESM ist es, „Finanzmittel zu mobilisieren und ESM-Mitgliedern eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist.“ Ein unzulässiger Vorbehalt, wie er in der Festschreibung eines deutschen Höchstbeitrags oder in langwierigen parlamentarischen Zustimmungserfordernissen gesehen werden könnte, ist nichtig und erzeugt keinerlei Rechtswirkung. Daran ändert auch eine eventuelle Annahme des Vorbehalts durch die anderen Vertragsparteien nichts. Die Zulässigkeit eines Vorbehalts ist vielmehr objektiv festzustellen. Im Falle des ESM-Vertrags käme diese Aufgabe laut Vertrag zunächst dem ESM-Gouverneursrat und in letzter Instanz dem Gerichtshof der Europäischen Union zu. Ob ein Staat trotz Nichtigkeit seines Vorbehalts Vertragspartei wird, soll nach Punkt 4.5.3 des Praxisleitfadens von dessen Willen abhängig sein. Grundsätzlich geht man davon aus, dass der Staat ohne seinen Vorbehalt Vertragspartei wird. Dies soll nur dann nicht der Fall sein, wenn der Staat klar zum Ausdruck gebracht hat, dass er ohne den Vorbehalt nicht Vertragspartei sein will. Auf diese Vorschrift des Praxisleitfadens zielt das Verfassungsgericht mit seiner obigen Anweisung an die Bundesregierung ab.

Auch wenn die deutschen Vorbehalte zulässig sein sollten, bedeutet dies nicht automatisch, dass diese der Auslegung des ESM-Vertrags zugrunde zu legen sind. Es kommt hier auf die Art des Vertrags und die Reaktion der anderen Vertragsparteien an. Geht man davon aus, dass es sich beim ESM-Vertrag, wie bei den bisherigen Verträgen über die europäische Integration, um einen Vertrag mit begrenzter Parteienzahl handelt, dessen Anwendung in seiner Gesamtheit zwischen allen Vertragsparteien eine wesentliche Voraussetzung für die Zustimmung jeder Vertragspartei ist, so bedürfen die deutschen Vorbehalte der Annahme durch alle 16 anderen Vertragsparteien. Da die deutschen Vorbehalte die Vertragsbestimmungen für die anderen Vertragsparteien untereinander nicht ändern können, kommt es bei Annahme der Vorbehalte zu unterschiedlichen Vertragsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den übrigen Vertragsparteien. Erhebt auch nur einer der anderen Euro-Staaten Einspruch gegen die deutschen Vorbehalte, wird Deutschland nicht Partei des ESM-Vertrags. Unsicherheiten für die Euro-Rettung ergeben sich zusätzlich daraus, dass Deutschland erst zu dem Zeitpunkt Vertragspartei werden kann, in dem alle anderen 16 Staaten die deutschen Vorbehalte angenommen haben. Die Annahme kann ausdrücklich oder konkludent geschehen. Die ausdrückliche Annahme der Vorbehalte ist von den Staats- oder Regierungschefs, den Außenministern oder bevollmächtigten Vertretern der Eurostaaten gegenüber dem Generalsekretariat des Rats der Europäischen Union als Verwahrer des ESM-Vertrages in Form einer diplomatischen Note zu erklären. Die Annahme einer von allen Eurostaaten gebilligten Erklärung erfüllt diese Erfordernisse nicht. Ein Vorbehalt gilt auch dann von einem Staat als angenommen, wenn dieser innerhalb von zwölf Monaten nach der Notifikation keinen Einspruch gegen den Vorbehalt erhoben hat. Wenn auch nur ein Vertragsstaat die Annahme des Vorbehalts nicht ausdrücklich erklärt, kann Deutschland frühestens ein Jahr nach Notifikation der Vorbehalte an diesen Staat Partei des ESM-Vertrags werden. Sofern eine politische Einigung zwischen den Eurostaaten erreicht wird, dürfte eine ausdrückliche Annahme der Vorbehalte bald möglich sein, da diese völkerrechtlich verbindlich durch die Regierungen der Staaten erfolgen kann.

Ähnliche Unsicherheiten ergeben sich, wenn man davon ausgeht, dass es sich beim ESM-Vertrag um die Gründungsakte einer internationalen Organisation handelt, wie es die Bundesregierung in ihrer Denkschrift zum ESM-Vertragsgesetz zu tun scheint. In diesem Fall bedarf ein Vorbehalt der Annahme durch das zuständige Organ der Organisation oder, wenn die Gründungsakte wie beim ESM noch nicht in Kraft getreten ist und die Organe noch nicht funktionsfähig sind, durch alle Unterzeichnerstaaten des Vertrags. Dies soll unterschiedliche innerorganisatorische Regeln für die verschiedenen Mitgliedstaaten ausschließen, wie sie durch einen deutschen Vorbehalt zum Informationsrecht von Bundestag und Bundesrat geschaffen würden. Widerspricht auch nur ein Unterzeichnerstaat, wird der den Vorbehalt anbringende Staat nicht Vertragspartei. Bis zur ausdrücklichen Annahme der deutschen Vorbehalte durch die anderen 16 Eurostaaten oder bis zum Ablauf von zwölf Monaten nach Notifikation der Vorbehalte ist Deutschland auch in diesem Falle nicht Vertragspartei.

Die Bundesregierung kann durch die Vorbehalte verhindern, dass Deutschland Partei eines nicht verfassungskonformen ESM-Vertrags wird, sie kann diesen selbst aber nicht ohne Einverständnis der anderen 16 Euroländer durch Vorbehalte verfassungskonform machen.