Medizin

Das Leben ist eine Scheibe

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Stammzellen aus Klonen? Kalter Kaffee! Die nächste Revolution rollt: Sie heißt Transdifferenzierung und schafft Organe direkt aus umprogrammierter Haut. Ohne Embryo, ohne alles – fast.

Alle paar Jahre erleben wir eine Revolution, und da stehen wir jetzt wieder.“ Wenn der Bonner Stammzellforscher Oliver Brüstle sich so äußert, dann ist das nicht einfach abgehobener Zweckoptimismus von einem, der erbittert um seine Stammzellpatente ringt und an den Fortschritten der Biomedizin verdienen möchte. Es ist eine klare Ansage von einem der führenden akademischen Köpfe auf diesem Gebiet. Und sie bezieht sich keineswegs auf die jüngsten Klonfortschritte der amerikanischen Gruppe um Shokhrat Mitalipov. Das Klonen mag aus ethischen und wissenschaftspolitischen Gründen derzeit das große Thema sein. Doch Brüstle bleibt, wie das Gros der Stammzellforscher weltweit, äußerst skeptisch, was die klinische Bedeutung und damit die Erfolgsaussichten einer Klonmedizin angeht.

Ganz anders sieht das mit der biomedizinischen Revolution aus, über die Brüstle viel lieber, ja geradezu enthusiastisch, spricht: die Transdifferenzierung, oder, wie er es nennt, die direkte Konversion. Was das bedeutet? Aus einer Hautzelle direkt eine Hirnzelle herzustellen, ohne den Umweg über die Stammzelle. „Das ist der nächste große Schritt“, sagt Brüstle. Und um sich das selbst zu beweisen, hat er unlängst gemeinsam mit seinen Kollegen Julia Ladewig und Philipp Koch vom „Life &amp- Brain Center“ der Universität Bonn alle wesentlichen Fakten in einem Übersichtsbeitrag für „Nature Reviews Molecular Cell Biology“ (doi: 10.1038/nrm3543) zusammengetragen, um am Ende festzustellen: „Die direkte Umwandlung eröffnet völlig neue Wege für die Erforschung von Zellen als Krankheitsmodelle und für die regenerative Medizin.“

Tatsächlich scheint, während alle noch über das Klonen diskutieren und auf die ersten therapeutischen Versuche mit den zu Recht mit dem Nobelpreis ausgezeichneten „induzierten Stammzellen“ (iPS) des Japaners Shinya Yamanaka warten, ein weiterer Umbruch in Gang gekommen zu sein. Während überall „geipst“ wird, wie Brüstle sagt, um den Aufstieg der induzierten Stammzellen zum biomedizinischen Hoffnungsträger Nummer eins zu beschreiben, wird auch schon an vielen Stellen systematisch an der Transdifferenzierung von Zellen gearbeitet. Die iPSe sind das Vorbild. Sie sind ein Phänomen ähnlich wie Google es im Internet vor vielen Jahren war: Plötzlich googelten alle.

Erst sechs Jahre sind seit der ersten Produktion menschlicher induzierter Stammzellen verstrichen. Ihr kometenhafter Erfolg hat sowohl technische wie ethische Gründe. Induzierte Stammzellen werden durch Reprogrammierung des Erbguts von schlichten Körperzellen, meistens Hautzellen, erzeugt. Die Hautzelle wird dabei extrem verjüngt, sie wird in einen quasi embryonalen Zustand versetzt. Man drückt gewissermaßen die epigenetische Reset-Taste – aus einer reifen, völlig ausdifferenzierten Hautzelle wird wieder eine Embryonalzelle, aus der anschließend alles Mögliche werden kann. Die Epigenetik beschreibt also einen magischen Schaltplan der Gene in den Zellen. Weiß man, welche biochemischen Veränderungen des Erbguts dazu nötig sind, Gene aus- und anzuschalten, kann man die Aktivität ganzer Gen-Netzwerke und damit das Schicksal der Zellen selbst beeinflussen. Und dazu gehören eben auch jene Gene, die die Entwicklung vom Embryo zum ausgewachsenen Organismus steuern. Der epigenetische Schaltplan künstlich induzierter Stammzellen ist dabei dem von natürlichen Embryonalzellen erstaunlich ähnlich. Und auch im Hinblick auf ihre nahezu beliebige Vervielfältigung in der Petrischale gleichen sie sich. Sie sind auch genauso plastisch: Aus ihnen kann durch Zusatz entsprechender Wachstumsfaktoren jede andere Zelle – und somit auch jedwedes Ersatzgewebe oder Ersatzorgan – entstehen. Zumindest theoretisch.

Tatsächlich funktioniert das alles schon im Labor in kleinen Mengen und mit einfachsten Mitteln: Schon für die Reprogrammierung einer Hautzelle zur Stammzelle reicht es, genetisch ganz wenige – mitunter nur zwei – entscheidende Transkriptionsfaktoren zu aktivieren, die dann buchstäblich die Programmierung ändern und eine Kaskade von Genaktivierungen auslösen, an deren Ende die komplette Verjüngung steht. Das Beste daran: Programmiert man diese Stammzellen anschließend in der Petrischale neu, so dass daraus etwa eine Herzmuskelzelle oder Hirnzelle entsteht, ist sie mit dem Gewebe des Patienten immunologisch vollkommen kompatibel. Sie wird nicht abgestoßen, weil schon die Hautzelle, mit der alles anfängt, vom Patienten selbst stammt. Und nicht minder wichtig: Mit der Erfindung der iPS wurden die biopolitischen Debatten mit einem Schlag entschärft. Es werden weder Eizellen benötigt für die Reprogrammierung wie etwa beim Klonen, noch entsteht ein Embryo in der Stammzellproduktion.

Allerdings hat die Verjüngung in den embryonalen Zustand und damit die Wiederherstellung der Pluripotenz auch Nachteile: Weil man den gesamten Entwicklungspfad in mehreren Schritten zurück bis in den Embryonalzustand gehen und die kostbaren Stammzellen anschließend vermehren sowie für die Umwandlung ins gewünschte Körpergewebe neu programmieren muss, bleiben potentielle epigenetische Unsicherheitsfaktoren. Sind die Zellen wie gewünscht vollständig reprogrammiert, ohne Artefakte? Die Qualitätssicherung ist in der Tat eine gewaltige Herausforderung. Teratome – unkontrollierte Wucherungen von Zellen – sind direkt mit der Pluripotenz verknüpft. Vor allem aber kostet die Erzeugung der Zielzellen viel Zeit: Einige Monate in der Regel. Und hier könnte einer der Schlüssel für den Durchbruch der Transdifferenzierung liegen.

Vor drei Jahren hat der deutschstämmige Stammzellforscher Marius Wernig von der Stanford-Universität zusammen mit Thomas Vierbuchen an Hautzellen der Maus – ein Jahr später auch an solchen von Menschen – gezeigt, dass die Reprogrammierung abgekürzt werden kann. Das Pluripotenz-Stadium kann bei der Herstellung von Hirnzellen komplett ausgelassen werden. Diese direkte Umprogrammierung von Hautzellen funktionierte in Wernigs Labor anfangs mit neunzehn Faktoren, am Ende landete man bei nur drei Genschaltern, die es zur Transdifferenzierung braucht. Und das Ganze gelingt in nur wenigen Tagen. Zum ersten Mal wurde damals eindeutig gezeigt, dass man auch über lange entwicklungsbiologische Distanzen umprogrammieren konnte, dass also aus der Haut völlig andere Zellen der beiden anderen Keimblätter herstellbar sind. Man muss nur an den richtigen Stellschrauben in der Zelle drehen. Schon in den achtziger Jahren hat man umprogrammiert, beispielsweise 1987 Hautfibroblasten mit Hilfe des Myoblasten-Determinierungsfaktors MyoD zu Muskelzellen. Das waren allerdings beides Zelltypen aus dem Mesoderm. Ähnlich verhält es sich mit Zellen aus dem äußeren Keimblatt, dem Ektoderm: Hirnzellen unterschiedlichen Typs, beispielsweise Astrozyten, sind schon vielfach direkt in funktionsfähige Nervenzellen umgewandelt worden. Die Gruppe um Magdalena Goetz vom Helmholtz-Zentrum München hat mit der Umprogrammierung von Zellen im Gehirn inzwischen einige Erfahrung gesammelt. Genauso wie die unterschiedlichsten Nervenzellen hat man auch Leberzellen oder Inselzellen aus der Bauchspeicheldrüse hergestellt.

Solche Umprogrammierungen sind inzwischen so leicht und bereits mit so wenigen Faktoren möglich, dass man schon den nächsten Schritt geht. Doug Melton von der Harvard-Universität hatte das im Jahr 2008 mit den Zellen der Bauchspeicheldrüse vorgeführt: Aus einem anfangs unüberschaubaren Mix von mehr als tausend Transkriptionsfaktoren hat man in Harvard drei identifiziert, die im Tierversuch jede fünfte gewöhnliche exokrine Zelle zu einer hochspezialisierten Inselzelle umwandelte, die auch medizinisch relevante Mengen an Insulin produzierte – eine Reprogrammierung, die nicht in der Petrischale, sondern durch direkte Umwandlung in der lebenden Bauchspeicheldrüse erfolgte. Genauso wurden inzwischen aus den Fibroblasten im Herzen durch Zugabe von lediglich drei Transkriptionsfaktoren funktionierende Herzmuskelzellen erzeugt – auch dies im lebenden, schlagenden Herzen selbst.

Man spart sich also auch den Umweg über die Züchtung in der Petrischale. Die Leistungsverbesserung in den Experimenten ist im lebenden Organ zwar noch gering, das liegt aber einfach daran, dass man es noch nicht schafft, mengenmäßig genug Fibroblasten ferngesteuert umzuwandeln. Ein Kardinalproblem der gesamten Stammzellforschung: in kurzer Zeit möglichst viele Zielzellen in großer Reinheit zu gewinnen. „Wir möchten, wenn es in die Klinik geht, die Ersatzzellen in der akuten Phase zur Verfügung haben, beispielsweise direkt nach einer Querschnittlähmung oder nach einem Infarkt“, sagt Brüstle. In seinem Labor hat man inzwischen die direkte Konversion von Hautzellen zu funktionstüchtigen Hirnzellen, sogenannten induzierten Neuronen (iN), in weniger als zwei Wochen erzielt. Und auch das Mengenproblem scheint auf einem vielversprechenden Weg zu sein. Durch geschickte Kombination von zwei Transkriptionsfaktoren und einigen kleinen Molekülen haben Brüstle und seine Kollegen die Effizienz der Umwandlung auf 200 Prozent gesteigert. Das bedeutet, aus jeweils einer Hautzelle wurden zwei Nervenzellen erzeugt. Denn ein Dilemma besteht mit der Transdifferenzierung grundsätzlich: Ist die Umprogrammierung erst einmal abgeschlossen und sind die gewünschten hochspezialisierten Hirnzellen erzeugt, teilen sich diese prinzipiell nicht mehr. Das gilt allerdings nicht für Vorläuferzellen, eine Art Zwischenstadium zwischen Stammzelle und spezialisierter Körperzelle. Sie teilen sich und sind vermehrbar. Mit den vier Transkriptionsfaktoren Sox2, KLF4, Myc und BRN4 sind vor einem Jahr Hautzellen zu Nerven-Vorläuferzellen umgewandelt worden. Interessanterweise sind die ersten drei genannten Transkriptionsfaktoren zusammen mit Oct4 genau jene vier Faktoren, mit denen Yamanaka aus Hautzellen seine induzierten pluripotenten Stammzellen erzeugt. Ein einziger Faktor macht also den Unterschied.

Tatsächlich hat es inzwischen eine andere Gruppe geschafft, aus Hautfibroblasten mit einem einzigen Transkriptionsfaktor, Sox2, voll teilungsfähige Nerven-Vorläuferzellen zu gewinnen, diese zu vermehren, und im anschließenden künstlichen Reifungsprozess in der Petrischale daraus verschiedene spezialisierte Hirnzellen zu entwickeln. Die Forscher versuchen, regelrechte regionale Landkarten für die Umprogrammierungen im Körper zu erstellen. Soll eine Dopamin produzierende Hirnzelle im Mittelhirn erzeugt werden, braucht es einen anderen Mix an Molekülen als zur Umwandlung der Bindegewebszellen in Neurone, welche die Motorik steuern.

Die vielen, faszinierend einfachen Transdifferenzierungen, die schon experimentell belegt sind, zeigen eines ganz klar: In der natürlichen Entwicklung mag es eine Art Hierarchie geben von der Eizelle hinab zu jeder der gut zweihundert unterschiedlichen Zelltypen im Körper. In der Petrischale gilt das nicht unbedingt. Der britische Entwicklungsbiologe Conrad Hal Waddington hat die natürliche Reifung im Zuge der Embryonalentwicklung mit dem Bild einer Murmel illustriert, die eine Landschaft hinunterrollt und in unterschiedliche Entwicklungstäler einmündet. Jede Abzweigung auf diesem Weg der zunehmenden epigenetischen Programmierung entscheidet über das endgültige Schicksal der Zelle. Brüstle und seine Bonner Kollegen stellen dieses Modell nach den Laborerfolgen nun grundsätzlich in Frage. Pluripotenz ist für sie kein höheres Entwicklungsstadium mehr, vielmehr ist sie nur eines unter gleichen – Primus inter Pares. Statt einer abfallenden epigenetischen Landschaft stellt sich Brüstle eine flache, epigenetische Drehscheibe vor: Die unterschiedlichen Entwicklungs- und Differenzierungsstadien, inklusive der embryonalen Pluripotenz, existieren nebeneinander in den Vertiefungen, und je nachdem wie man die Scheibe mittels äußerer Faktoren kippt, wird das Genomprogramm umgestellt und die Murmel rollt jeweils in die gewünschte andere Mulde. Jede Zelle ist also prinzipiell so gut wie in jede andere umwandelbar.

So weit das neue Bild. Wie genau die programmierbare Drehscheibe allerdings die Verhältnisse in den Zellen tatsächlich widerspiegelt, ist noch unklar. Viele Details der molekularen Veränderungen, die mit dem Prozess der Umprogrammierung einhergehen, sind noch unbekannt. Immer wieder werden die Forscher von neuen Beobachtungen und Erfindungen überrascht. Dazu gehört auch, dass die Transdifferenzierung sogar ohne Transkriptionsfaktoren und nur mit kleinen miRNA-Molekülen gelingen kann. Von diesen winzigen Nukleotidschnipseln weiß man, dass sie die Aktivität bestimmter Gene gezielt unterbinden. Mit sechs solcher miRNA hat man in der Petrischale und in den Organen von Versuchstieren Bindegewebszellen zu Herzmuskelzellen umgewidmet. Welche Gen-Netzwerke dabei beeinflusst werden, ist bisher freilich in keinem Fall lückenlos geklärt. Zudem bleibt noch unklar, ob nach der Umwandlung eine Art epigenetisches Gedächtnis der Ausgangszellen zurückbleibt und möglicherweise die Funktion der neuen Zellen stört.

Darin unterscheiden sie sich allerdings auch nicht von Yamanakas induzierten Stammzellen. „Bisher haben wir jedenfalls keinen Grund zu der Annahme, dass die Zellen nach der direkten Konversion schlechter sind als induzierte Stammzellen“, sagt Brüstle. Bevor es in die klinische Anwendung geht und Patienten mit einem Cocktail von Transkriptionsfaktoren oder mit ihren eigenen umprogrammierten Hautzellen behandelt werden, um Diabetes, Alzheimer oder Parkinson zu behandeln, werden sich die umprogrammierten Zellen vermutlich erst jahrelang in Zellfabriken bewähren müssen: Als Kulturen für Wirkstoff- und Toxizitätstests und als genetische Krankheitsmodelle, die im Zellverband die gleichen Fehlfunktionen aufweisen wie die bekannten Krankheiten beim Menschen – sich aber entsprechend leichter in der Petrischale erforschen lassen. Brüstle entwickelt zur Zeit eine solche automatisierte Zellfabrik in Bonn.