
Die europäische Integration stellt die Verfassungsidentität Deutschlands in Frage. Sollen die Währungsunion in eine Transfer- und Haftungsgemeinschaft umgewandelt werden? Ein öffentlicher Diskurs darüber ist zwingend.
Geschichte wiederholt sich nicht – Geschichten wiederholen sich aber von Zeit zu Zeit offenbar doch. Es ist noch kein Vierteljahrhundert her, dass die Legende von den zwei Wegen zur Wiedervereinigung in die Welt gesetzt wurde. Nach dem Fall der Mauer im November 1989 wollte man uns weismachen, dass es zwei Wege zur Wiedervereinigung gäbe: den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) nach Art. 23 GG alte Fassung oder eine Verfassungsneuschöpfung nach Art. 146 GG, um auch jenen Deutschen die Möglichkeit zur Teilhabe am gemeinsamen Verfassungswerk zu geben, denen 1949 „mitzuwirken versagt war“ (wie es in der ursprünglichen Präambel des Grundgesetzes hieß). Jedem Kundigen war schon damals klar, dass mit dieser scheinbaren Alternative der Öffentlichkeit Sand in die Augen gestreut werden sollte.
Denn natürlich ließ sich mit einer neuen gesamtdeutschen Verfassung keine Wiedervereinigung herbeiführen, weil die Bürgerinnen und Bürger der alten DDR vorher das Wahlrecht zu einer verfassunggebenden Versammlung hätten erhalten müssen, was wiederum zunächst deren Unterstellung unter das Grundgesetz voraussetzte. Richtig wäre also ein kumulatives Vorgehen gewesen: erst der Beitritt, dann eine Verfassungsgebung.
Eine ähnliche Legende wurde uns bei der Einführung des Euro serviert. Während in Irland, Frankreich und Dänemark Volksabstimmungen zum Vertrag von Maastricht stattfanden, behauptete man 1998 bei der Ratifizierung in Bundestag und Bundesrat schlicht, das Grundgesetz habe eine repräsentativen Demokratie geschaffen, in der Plebiszite auf den Neugliederungsfall des Art. 29 GG beschränkt seien. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte diese Auffassung wenig später in seinem „Maastricht-Urteil“. Es stellte fest, dass das Prinzip der repräsentative Demokratie zum „änderungsfesten Kern des Grundgesetzes“ gehöre, der es ausschließe, ein verfassungsänderndes Gesetz, das diesen Kern antaste, im Wege eines Volksentscheids zu legitimieren. Obwohl Art. 20 Absatz 2 Satz 2 GG ganz allgemein davon spricht, dass die vom Volk ausgehende Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt wird, wurde damit ein auf mittelbare Legitimation verkürztes Verständnis des Demokratieprinzips unzutreffend als fester Bestand der grundgesetzlichen Ordnung ausgegeben und erneut gegen die Option einer Verfassungsgebung nach Art. 146 GG ausgespielt.
Das Griechenland-Urteil geht noch weiter
Inzwischen hat die Zeit diese künstlichen Antithesen als Legenden entlarvt. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht in seinen jüngsten Entscheidungen zum Vertrag von Lissabon und zum vorläufigen Euro-Rettungsschirm (EFSF) wiederum mit der Option einer Verfassungsneuschöpfung argumentiert und sogar die Bedingungen angegeben, unter denen der Weg nach Art. 146 GG beschritten werden müsse. Im „Lissabon-Urteil“ von 2009 heißt es, Art. 146 GG formuliere die äußerste Grenze der Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration. Allein die verfassunggebende Gewalt sei berechtigt, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt. Das „Griechenland-Urteil“ von 2011 geht sogar noch weiter: Das Budgetrecht des Parlaments sei ein „grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat“ und stelle zugleich „ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar“. Daher dürfe der Deutsche Bundestag seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen oder dauerhafte völkervertragsrechtliche Mechanismen begründen, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinausliefen – vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgen verbunden seien.
Grenzen des Grundgesetzes erreicht?
Seither wird wieder auf verwegene Weise mit der Option des Art. 146 GG gespielt. Jeder weitere Integrationsschritt auf dem Weg zur europäischen Einigung soll nicht nur an die Grenzen der Verfassungsänderung nach Art. 79 Absatz 3 GG führen, sondern diese sogar überschreiten und eine Verfassungsneuschöpfung in Deutschland erfordern. Das gelte – so einige Beschwerdeführer in den zurzeit anhängigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – namentlich für den Fiskalpakt und den dauerhaften Rettungsschirm des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM). Inzwischen ist selbst der Bundesfinanzminister davon überzeugt, dass es bei einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, mit der die Grenzen des Grundgesetzes erreicht seien, eher früher als später zu einer Volksabstimmung kommen werde. Damit hat die neue Debatte über das Für und Wider des Verfahrens nach Art. 146 GG nicht nur neue Nahrung, sondern sogar den Segen eines Mitglieds der Bundesregierung erhalten. Dennoch ist allen Beteiligten klar, dass zunächst die Europäische Union selbst grundlegend umgebaut und in ein demokratisch verfasstes, multinationales Staatswesen föderativer Art verwandelt werden müsste, bevor die Bundesrepublik Deutschland wesentliche Elemente ihrer Souveränität, darunter auch Teile der Haushaltsautonomie des Parlaments, preisgeben könnte. Eine Verfassungsneuschöpfung, so sie dann nötig würde, kann immer nur der allerletzte Schritt und somit niemals ein „Grundstein“, sondern immer nur der „Schlussstein“ im Bauwerk europäischer Staatlichkeit sein. Daher befinden wir uns bei diesem Thema zum dritten Mal inmitten einer unfruchtbaren Legendenbildung.
Fällt aber die Option des Art. 146 GG auf unabsehbare Zeit aus, stellt sich schon bei den jetzigen Bemühungen um die Rettung des Euro mit Hilfe des Fiskalpakts und des ESM, erst recht aber bei künftigen Maßnahmen, die noch näher an eine echte Fiskalunion heranführen, die Frage, ob das Volk weiterhin abseits stehen müsste oder genauer: ins Abseits gestellt werden darf. Der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof beklagt, dass der Zug zu mehr Integration stetig unterwegs sei, ohne dass sein Ziel schon bestimmt und die Haltepunkte, in denen der Mensch ein- und aussteigen könne, schon definiert wären. Europarecht sei ein „Recht auf Rädern“, das Kontinuität und Nachhaltigkeit im Elementaren kenne, im Kampf um Macht und Aktionen aber verweigere und insoweit dem Bürger das Vertrauen in dieses nicht vertraute Recht versage. Bezogen auf die gegenwärtige Euro-Krise erwächst daraus das Problem, ob die Bundesregierung zusammen mit Bundestag und Bundesrat Haftungsrisiken des deutschen Steuerzahlers für überschuldete Mitglieder der Währungsunion in Höhe von mindestens 310 Milliarden Euro eingehen darf, ohne den demokratischen Souverän zu beteiligen.
Verfassungsidentität Deutschlands wahren
Als sich in den Jahren 1992/93 eine „Gemeinsame Verfassungskommission“ von Bundestag und Bundesrat ans Werk machte, die notwendigen einigungsbedingten Verfassungsänderungen vorzubereiten, stand sie vor dem Problem, wie gewährleistet werden kann, dass im Zuge der europäischen Integration die Verfassungsidentität Deutschlands nicht angetastet wird. So entstand auf Vorschlag des Kommissionsvorsitzenden Rupert Scholz und des Autors dieses Beitrags, der damals den Obmann der SPD Hans-Jochen Vogel beraten hat, die sogenannte Struktursicherungsklausel des Art. 23 Absatz 1 GG, wonach Deutschland „bei der Entwicklung der Europäischen Union“ mitwirkt, „die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“. Für die Begründung dieser Union sowie für die Änderung ihrer vertraglichen Grundlagen und für vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird, sollten Art. 79 Absatz 2 und 3 GG maßgeblich sein, also nicht nur das Verfahren, sondern auch die Grenzen einer Verfassungsänderung nach dem Grundgesetz gelten.
Wir haben damals geglaubt, mit dieser Regelung die Verfassungsidentität des Grundgesetzes wahren und die Zeit bis zur Errichtung eines europäischen Vielvölkerstaates, den man in Anlehnung an die Schweiz als „Bündnisstaat“ bezeichnen könnte, möglichst ohne verfassungsrechtliche Brüche oder Grenzsituationen überbrücken zu können. Dass schon vorher Notlagen entstehen würden, in denen – wie gegenwärtig in der Euro-Krise – Maßnahmen unvermeidlich werden, die auf finanziellem Gebiet jene Verfassungsidentität mindestens in Frage stellen, konnten wir nicht ahnen. Hätten wir sie vorausgesehen, wäre es naheliegend gewesen, nicht nur das Verfahren und die Grenzen der Verfassungsänderung in Art. 23 GG abzubilden, sondern auch für die Beteiligung des Volkes an grundlegenden europapolitischen Weichenstellungen eine Art „Zwischenstation“ unmittelbarer Demokratie bis zum Endziel der Verfassungsneuschöpfung nach Art. 146 GG zu schaffen.
Plebiszit über Transfer- und Haftungsgemeinschaft
Was zu jener Zeit leider versäumt wurde, lässt sich aber immer noch nachholen. Nicht nur der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, sondern auch der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof haben sich schon im Februar dieses Jahres dafür ausgesprochen, über die Entwicklung der Währungsunion hin zu einer Transfer- und Haftungsgemeinschaft für Staatsschulden einzelner Mitglieder das Volk abstimmen zu lassen. Dazu müsste allerdings vorher das Grundgesetz geändert und eine entsprechende Öffnungsklausel geschaffen werden. Wie aber würde eine solche Regelung aussehen? Man könnte zum Beispiel in Art. 23 GG einen Absatz 2a einfügen, der wie folgt lauten sollte: „Zustimmungsgesetze zu Verträgen oder Vertragsänderungen in Angelegenheiten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bedürfen der Bestätigung durch Volksentscheid. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Wie ein solches Europa-Referendum konkret auszugestalten wäre und welche Quoren für sein Zustandekommen vorzusehen wären (zum Beispiel eine Beteiligung von 50 Prozent der Stimmberechtigten und eine Zustimmung von 67 Prozent der Abstimmenden), ist eher von nachrangiger Bedeutung.
Viel wichtiger als die Entscheidung selbst und ihr Ergebnis ist der vorangehende öffentliche Diskurs, bei dem die Bürgerinnen und Bürger von der angeblichen „Alternativlosigkeit“ des europäischen Rettungsschirms (im Verbund mit einer Schuldenbremse) überzeugt werden müssten und den offenbar auch Bundespräsident Gauck im Auge hatte, als er der Bundeskanzlerin vorwarf, die Euro-Rettung der Bevölkerung nicht hinreichend erklärt zu haben. Sofern die Rettungsmaßnahmen in der Sache geboten und in ihrem Ausmaß zu verantworten sind, sollte es den Politikern nicht nur in Irland, sondern auch bei uns möglich sein, darüber nach der Beschlussfassung in den gesetzgebenden Körperschaften mit Zweidrittelmehrheiten auch ein positives Votum des Volkes herbeizuführen. Dass sich dieser Vorschlag einer gewissen Popularität erfreuen dürfte, hat nichts mit romantisierender Volkstümelei, umso mehr aber mit gelebter Demokratie zu tun, die ohne ein gewisses Maß an Vertrauen der Regierenden in die Weisheit der Regierten nicht zu haben ist. Schon Bert Brecht bemerkte über den demokratischen Souverän: „Das Volk ist nicht tümlich.“
