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Zur Erziehung anvertraut

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Wann ist ein Sexualkontakt an der Schule strafbarer Missbrauch? Entscheidend ist die Überlegenheit jedes Lehrers.

Müssen Lehrer strafrechtliche Folgen fürchten, wenn sie mit minderjährigen Schülern und Schülerinnen Sexualkontakte haben? Auf diese einfache Frage gibt es nur dann eine einfache Antwort, wenn die Betroffenen jünger als vierzehn Jahre sind. Dann handelt es sich im strafrechtlichen Sinn um Kinder (Paragraph 176 Abs. 1 StGB), und insoweit gilt für jedermann, unabhängig von beruflichen Pflichten, ein kategorisches Verbot sexueller Handlungen. Sind Schüler und Schülerinnen jedoch Jugendliche (vierzehn bis achtzehn Jahre), ist die Lage komplizierter.

Mehrere Revisionsurteile haben in jüngerer Zeit strafrechtliche Verurteilungen von Lehrern aufgehoben, die jeweils mit vierzehnjährigen Schülerinnen Sexualverkehr hatten: so das Oberlandesgericht Koblenz im Dezember 2011 und der Bundesgerichtshof im April 2012. Diese Urteile sorgten für Verwirrung und Unverständnis, da es schwer nachzuvollziehen ist, warum in manchen Fällen Lehrer bestraft werden, in anderen dagegen nicht. Schließlich verbietet das Strafgesetzbuch sexuelle Handlungen mit Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, wenn diese dem Täter „zur Erziehung anvertraut“ sind (Paragraph 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB), und man könnte davon ausgehen, dass Lehrern alle Schüler ihrer Schule „zur Erziehung anvertraut“ sind.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung sieht dies allerdings anders. Sexueller Missbrauch wird zwar angenommen, wenn der Lehrer die betroffenen Schüler als Klassenlehrer oder Fachlehrer regelmäßig unterrichtet hat – unter diesen Umständen liegt unstreitig das entscheidende Merkmal „zur Erziehung anvertraut“ vor. Im Übrigen stellen die Gerichte jedoch hohe Anforderungen. Verneint wird das strafrechtlich relevante Obhutsverhältnis, wenn sich Betreuungspflichten auf gelegentlichen Vertretungsunterricht oder Pausenaufsicht beschränkten. Begegneten sich Lehrer und Schüler während schulisch initiierter Aktivitäten außerhalb des eigentlichen Unterrichts, etwa in einer freiwillig besuchten Arbeitsgemeinschaft, soll es darauf ankommen, ob dies ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung begründete. Es müsse konkret nachgewiesen werden, aufgrund welcher Umstände der Lehrer dem Schüler oder der Schülerin übergeordnet gewesen sei.

Die Rechtsprechung sieht das Über- und Unterordnungsverhältnis nicht psychologisch, sondern formal, auf konkrete äußere Einwirkungsmöglichkeiten bezogen. So wird etwa ab dem Tag, an dem Unterricht nicht mehr stattfand, ein Abhängigkeitsverhältnis verneint. Die dahinter stehende Logik ist offenbar, dass ein Missbrauch nur vorliege, soweit und solange der Lehrer auf die Schülerin durch Notenvergabe oder mit vergleichbaren Kontroll- und Sanktionsinstrumenten einwirken konnte.

Gegen diesen Ansatz ist zum einen einzuwenden, dass die Grenzen zwischen strafbarem und strafrechtlich akzeptiertem Verhalten diffus sind. Unter welchen Umständen Fälle jenseits der Klassenlehrer/Fachlehrer-Konstellation strafrechtlich sanktioniert werden, ist selbst für Juristen nicht einfach vorherzusagen. Zum anderen ist die Frage zu stellen, ob die Rechtsprechung dem Anliegen gerecht wird, sexuelle Selbstbestimmung zu schützen. Das deutsche Rechtssystem geht davon aus, dass Jugendliche nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres zwar noch nicht wie Erwachsene in vollem Umfang, aber doch unter günstigen Umständen zu selbstbestimmten Entscheidungen über Sexualkontakte in der Lage sind. Handelt es sich um selbstbestimmtes Handeln, gibt es keinen Grund, den Sexualpartner des Jugendlichen zu bestrafen.

Die maßgebliche Altersschwelle wird in anderen Ländern teilweise höher gesetzt, in Großbritannien etwa liegt sie bei sechzehn Jahren. Die deutsche Regelung gibt Jugendlichen mehr Freiräume für erste (auch) sexuelle Beziehungen mit Freunden und Freundinnen, was nicht nur lebensnäher, sondern auch grundsätzlich zu begrüßen ist. Es ist aber davon auszugehen, dass bei vierzehn- und fünfzehnjährigen Jugendlichen die Selbstbestimmungsfähigkeit noch unausgereift und stark kontextabhängig ist. Ausschlaggebend ist, dass die Entscheidung für die sexuelle Handlung nicht aufgrund von Druck oder Manipulationen einer überlegenen Person oder unter in der konkreten Interaktion erschwerten Bedingungen entsteht. Selbstbestimmung ist nicht mit schlichtem faktischem Wollen zu verwechseln. Auch wenn Jugendliche „Ja“ sagen, auch wenn kein entgegenstehender Wille gebrochen werden muss, selbst wenn Verliebtheitsgefühle bestehen, kann es an einer selbstbestimmten Entscheidung fehlen.

Die Missbrauchstatbestände, insbesondere Paragraph 174 StGB, beschreiben Autoritätsverhältnisse, innerhalb deren Jugendliche nicht auf Augenhöhe kommunizieren und nicht mit derselben Kompetenz wie ihr Gegenüber agieren können. Der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist vorzuwerfen, dass sie mit ihrer engen Auslegung des Merkmals „zur Erziehung anvertraut“ die Fragilität der Selbstbestimmungsfähigkeit von Vierzehn- und Fünfzehnjährigen nicht angemessen würdigt. Die äußeren Möglichkeiten, Druck auszuüben, die ein notengebender Fachlehrer hat, können natürlich eine Rolle spielen. Aber noch wichtiger ist ein anderer Umstand, nämlich die Überlegenheit, die durch die soziale Rolle entsteht. Aus der Perspektive von Schülern wird auch der Lehrer, mit dem man etwa bei einem Schulfest erstmals ins Gespräch kommt, in seiner sozialen Rolle als Lehrer wahrgenommen, also als eine Person, mit der ein genuin gleichberechtigter Umgang wie mit Klassenkameraden nicht möglich ist. Dies gilt auch dann, wenn äußere Umgangsformen kumpelhaft ausfallen. Die Bezeichnung des Gefälles, das durch Altersunterschiede und soziale Rollen entsteht, als „Autoritätsverhältnis“ sollte nicht zur Annahme verleiten, dass Paragraph 174 StGB nur vor expliziten und impliziten Drohungen schützen soll. Gefährlicher als ein autoritär auftretender, seine Sanktionsmöglichkeiten betonender Lehrer (der meist nicht anziehend wirkt) ist der verständnisvolle Lehrer, der zunächst Bereitschaft zum Zuhören und dann eine Schulter zum Anlehnen bietet. Die Kombination einer mit der sozialen Rolle des Lehrers verbundenen Überlegenheit mit einem von Schülern als Privileg verstandenen vertraulichen Umgang schafft eine verwirrende Situation, die Wahrnehmungen und Bewertungen erheblich erschwert. Es ist für Jugendliche in einem solchen Kontext schwierig, eine klare eigene Haltung zu möglichen Sexualkontakten zu entwickeln manipulatives Vorgehen zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren. Auf ähnliche Bedingungen können natürlich auch volljährige Personen stoßen, etwas Studentinnen im Verhältnis zu Hochschullehrern. Jedoch ist der entscheidende Punkt des Konzepts „Minderjährigkeit“, dass Jugendlichen nicht die Selbstbestimmungsfähigkeit zugeschrieben werden darf, die wir Erwachsenen im Regelfall zuschreiben. Bei Vierzehn- und Fünfzehnjährigen ist es unangemessen, von einer selbstbestimmten Entscheidung zum Sexualkontakt auszugehen, wenn die Bekanntschaft mit einem Lehrer in ihrem schulischen Umfeld, innerhalb oder außerhalb des Unterrichts, entstand.

Vorzugswürdig ist eine Auslegung des Gesetzes, die „zur Erziehung anvertraut“ bei Lehrern gegenüber allen Schülern ihrer Schule bejaht. Da der Bundesgerichtshof eine anderslautende ständige Rechtsprechung etabliert hat, ist nun der Gesetzgeber gefragt. Eine Änderung des Wortlauts von Paragraph 174 StGB sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass ein strafwürdiger sexueller Übergriff eines Erwachsenen auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Jugendliche zustimmt, aber dies aufgrund der sozialen Umstände nicht als selbstbestimmte Entscheidung gewertet werden kann.