Mensch & Gene

Der vierte Zapfen

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Farbe nimmt unser Auge normalerweise über drei Sinneszelltypen wahr. Einige Menschen verfügen über einen vierten – und damit zuweilen über einen besonders scharfen Farbsinn.

Hübsche Farbe. Ein sattes Gelb, fast schon Orange. Doch unterscheidet sich dieses Gelb im Testfeld des Anomalometers vom Farbton des Referenzfeldes darunter, oder lassen sich beide mit dem Regler, der die Helligkeit, nicht aber die spektrale Farbzusammensetzung des Testfeldes verändert, für meine Augen in perfekten farblichen Einklang bringen? Zehn Minuten und etliche Referenzfarbtöne später reichen die Daten für eine Diagnose: Bei der Farbwahrnehmung bin ich ein absoluter Normalo, die Messwerte geben keinen Hinweis auf eine Sehschwäche im roten oder grünen Bereich vulgo Farbenblindheit.

Was beim Augenarzt Grund zur Erleichterung wäre, löst im Labor von Gabriele Jordan von der Universität im nordenglischen Newcastle eher Enttäuschung aus. Denn die in Dortmund geborene und seit Jahren in England arbeitende Sehpsychologin braucht Männer mit angeborener Rot-Grün-Sehschwäche, und zwar möglichst viele. Dabei geht es der Forscherin eigentlich nicht um die Männer selbst, sondern um deren Mütter. Unter ihnen sucht die Forscherin nach ihren eigentlichen Studienobjekten: Frauen, deren Augen anstatt der üblicherweise drei unterschiedlichen Sehpigmente mit vier Typen ausgestattet sind (siehe Kasten unten: „Warum ist die Banane gelb?“). Das könnte ihnen ein besonders feines Unterscheidungsvermögen für feinste Farbnuancen verleihen.

Dass Frauen mit einem zusätzlichen Typ zapfenförmiger Sinneszellen ebenjenen Familien angehören, die auch rot-grün-schwache Männer hervorbringen, klingt paradox. Doch ein Blick auf den Erbgang des menschlichen Farbsinnes löst den scheinbaren Widerspruch. Während die genetische Information für den vor allem im blauen Spektralbereich empfindlichen Sehfarbstoff auf Chromosom Nummer sieben und damit auf einem der bei allen Menschen paarig vorliegenden 22 sogenannten Autosomen zu finden ist, liegen die Gene für die im roten und grünen Spektralbereich empfindlichen Sehpigmente dicht nebeneinander auf dem X-Chromosom. Dieses fungiert nicht nur als Träger von Erbinformation, sondern ist zusammen mit dem weitgehend geschrumpften Y-Chromosom eines von zwei Geschlechtschromosomen, deren Verteilung darüber entscheidet, ob aus einer befruchteten Eizelle Männlein oder Weiblein wird: Frauen haben zwei X-Chromosomen, die sie von Vater und Mutter geerbt haben. Männer dagegen erhalten ihr Y-Chromosom vom Vater, sein X-förmiges Gegenstück stammt immer von der Mutter.

Damit besitzt das starke Geschlecht aber auch die Gene für grüne und rote Sehpigmente nur einmal. Das macht Männer anfällig für mutierte Varianten dieser Gene: die Veränderung des Sehpigments kommt bei ihnen als Sehschwäche im roten oder grünen Bereich voll zum Tragen. Bei Frauen, die auf ihren beiden X-Chromosomen jeweils ein normales und ein mutiertes Gen aufweisen (man spricht hier von einem heterozygoten Gen, das in zwei Varianten vorliegt), wird der Schaden von dem unveränderten Gen auf dem zweiten X-Chromosom ausgeglichen.

Die häufigsten Mutationen bei einer solchen Rot-Grün-Schwäche erzeugen aber keinen Totalausfall des betroffenen Gens wie bei der sehr viel selteneren echten Rot- oder Grünblindheit. Vielmehr entstehen dabei Hybridgene, in denen etwa ein Teil des grün-empfindlichen Pigmentgens durch den entsprechenden Abschnitt seines rot-empfindlichen Schwestergens ersetzt ist. Das Resultat ist ein nach wie vor funktionstüchtiger Sehfarbstoff mit einer verschobenen Absorptionskurve (siehe Graphik), die zwischen den Kurven der normalen roten und grünen Sehpigmente liegt. Je nachdem, wie sehr sich die Kurven der beiden Zapfentypen für den Mittel- und Langwellenbereich noch unterscheiden, fällt die Rot-Grün-Schwäche unterschiedlich stark aus.

“Für heterozygote Frauen aus solchen Familien bedeutet dies, dass sich auf einem ihrer X-Chromosomen ein hybridisiertes, auf dem anderen Chromosom jedoch die normale Form des grünen oder roten Sehpigments befindet. Sie haben also vier funktionstüchtige Typen von Farbsehpigmenten: die normalen drei plus das mutierte Pigment“, sagt Jordan, die sich seit bald zwanzig Jahren mit solchen sogenannten retinalen Tetrachromaten beschäftigt.

Gibt es auch funktionelle Tetachromaten?

Dass es solche Frauen mir vier verschiedenen Zapfentypen geben müsste, postulierte schon 1948 der niederländische Biophysiker Hessel de Vries. Tatsächlich sind sie nicht einmal besonders selten. Etwa zwölf Prozent der europäischen Frauen seien retinale Tetrachromaten, schätzt Jordan. Die große Frage, der Jordan auf der Spur ist, lautet: Nehmen diese Frauen die Welt auch mit anderen Augen wahr als ein Durchschnittsmensch? Sind sie also nicht nur retinale, sondern auch funktionale Tetrachromaten? Das würde voraussetzen, dass die neuronalen Verschaltungen des Gehirns, die aus den Lichtwellen schließlich den subjektiven Eindruck einer Farbe entstehen lassen, flexibel genug sind, um die zusätzliche Information des vierten Zapfentyps auch in sinnvoller Weise zu verarbeiten.

Diese Frage fasziniert nicht nur Hirnforscher, sondern rührt auch an grundlegende Probleme der Philosophie. Dort sind Farben ein klassisches Beispiel für eine sogenannte sekundäre Qualität eines Körpers, die anders als die objektiv messbare Wellenlänge des von ihm ausgesandten Lichts erst als Produkt des menschlichen Geistes entsteht. Wie es sich anfühlt, eine rote Tomate zu betrachten, ob dieses Gefühl für verschiedene Menschen gleich ist und ob sich das Phänomen der subjektiven Erfahrung der Farbe Rot mit den Mitteln der Naturwissenschaft jemals komplett erklären lassen wird, sind zentrale Fragen der Qualia-Debatte in der Philosophie des Geistes.

Für Gabriele Jordan bringt die Subjektivität der Farbwahrnehmung ganz praktische Probleme bei der Suche nach wahrhaft tetrachromaten Frauen mit sich. Denn in einer Gesellschaft, die auf die trichromate Farbwahrnehmung ihrer Durchschnittsmitglieder ausgerichtet ist, fällt diesen Frauen ihre spezielle Gabe unter Umständen gar nicht weiter auf. Ob ihre Probandinnen wahre Tetrachromaten sind, zeigt sich erst in speziellen Tests, etwa am Anomaloskop. „Damit können wir zwar auch nicht messen, wie es sich anfühlt, rotes Licht wahrzunehmen, aber immerhin zeigt der Test, ob und wie unterschiedlich stark verschiedene Menschen den Unterschied zwischen zwei physikalisch ähnlichen Rottönen wahrnehmen.“

Viele Jahre lang verlief Jordans Suche nach echten, funktionalen Tetrachromatinnen ernüchternd. Zwar konnte sie in der unmittelbaren Verwandtschaft rot-grün-schwacher Männer zahlreiche Frauen mit einem vierten Zapfentyp ausfindig machen. Aber beim Differenzieren verschiedener Farbtöne am Anomaloskop und anderen raffinierten Testverfahren schnitten diese Frauen nicht viel anders ab als Normalsichtige.

Dann setzte sich eines Tages eine junge Ärztin aus Nordengland an Jordans Messgeräte, eine Mutter zweier Söhne mit einer durch einen hybridisierten Grün-Zapfen verursachten Sehschwäche. cDA29, so der Codename der Probandin, versetzte Jordan und ihre Kollegen in helle Aufregung. „Sie konnte noch die feinsten Unterschiede erkennen und machte in unseren Tests absolut keine Fehler“, erzählt Jordan begeistert.

Nach fast zwei Jahrzehnten der Suche, die sie einst zusammen mit ihrem Doktorvater John Mollon an der Universität Cambridge begann, hatte Jordan endlich eine echte Tetrachromatin gefunden, über die sie 2010 im Journal of Vision berichtete. Deren Existenz wirft aber einen ganzen Haufen neuer Fragen auf, allen voran die, warum all die anderen retinal tetrachromaten Frauen keinen Vorteil aus ihrem vierten Rezeptor ziehen können. Zum Teil dürfte das mit der Genetik zusammenhängen: Die Absorptionskurven mancher Hybridvarianten unterscheiden sich nur geringfügig von jenen der normalen Rot- oder Grün-Sehpigmente. Sie liefern deshalb kaum zusätzliche Information über die spektrale Zusammensetzung des ins Auge einfallenden Lichts.

Viele Fragen sind ungeklärt

Ungeklärt ist auch die Frage, ob Tetrachromatinnen möglicherweise einen evolutionären Vorteil haben, etwa weil sie Farbe der Haut ihrer Kinder genauer analysieren und Krankheiten so früher erkennen können. Ein solcher Vorteil könnten den Nachteil für die sehschwachen Söhne zumindest teilweise ausgleichen und so die relativ hohe Ausbreitung der Hybridgene in den meisten menschlichen Populationen erklären.

Auch die Evolution unseres Sehsystems ist offenbar noch längst nicht am Ende. Seine Ursprünge reichen etwa 40 Millionen Jahre zurück. Damals muss es in den Vorfahren von Mensch und Altweltaffen zu einer Verdopplung des Gens für jenes Sehpigment gekommen sein, das bei den fast durchgehend dichromaten Säugetieren allein für den langwelligen Grün- bis Rotbereich zuständig war. Eines der beiden zunächst identischen Gene konnte sich in der Folge ein neues Aufgabengebiet suchen. Der Grundstein zum trichromaten Sehen von Mensch und Schimpanse war gelegt.

Jordan hofft nun über die gezielte Suche nach Frauen mit den passenden Hybrid-Genen mit Hilfe eines einfachen Gentests schneller weitere echte menschliche Tetrachromatinnen zu finden. Sie könnten Antworten auf die Frage liefern, welche Faktoren es Frauen wie cDA29 erlauben, ihren zusätzliche Sehzapfen effektiv zu nutzen, während dessen Fähigkeiten bei den meisten Frauen mit vier Zapfentypen offenbar ungenutzt bleiben. Eine weitere Kandidatin, die aber noch genauer getestet werden müsse, gebe es bereits, so die Forscherin.

Wie die Welt durch die Augen einer echten Tetrachromatin aussieht, wird sich dem Normalsichtigen allerdings nie so recht erschließen. „Diese private Wahrnehmung nachvollziehen zu können wäre natürlich extrem spannend“, sagt Gabriele Jordan. Allerdings brauchten die Philosophen dann auch nicht mehr über das Problem der Qualia zu debattieren. Für Probandin cDA29 hielt die Teilnahme an Jordans Experimenten jedenfalls eine handfeste Überraschung bereit: Sie hatte zuvor nicht die geringste Ahnung von ihren besonderen Fähigkeiten.