Essen & Trinken

Grillhähnchen einen die Nation

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Peru ist vom Aufbruch erfasst. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Küche, die so vielfältig ist wie keine andere. Und die sich nun selbstbewusst aufmacht, die Welt zu erobern.

Das Gute liegt so nah, doch bevor Virgilio Martínez aus Lima diese alte Weisheit zur Perfektion trieb, reiste er fünfzehn Jahre lang um die Welt. Er arbeitete bei 40 Köchen, in Manhattan, in Madrid, in Ottawa, in London, in Singapur, in Sant Celoni, in Bogotá. Er kochte französisch, japanisch, chinesisch und katalanisch, ein Suchender der internationalen Spitzenküche. „Ich habe meine Heimat gemieden“, sagt er, „und meine Nationalität abgelehnt.“

Heute kocht Virgilio Martínez peruanisch. In seinem Restaurant „Central“ in Limas Küstenviertel Miraflores verwendet er fast ausschließlich einheimische Zutaten. 99 Prozent, sagt er.

Einschränken muss sich Martínez deshalb nicht, im Gegenteil: Die Vielfalt der natürlichen Ressourcen Perus ist ungeheuer. Im kalten Wasser des Humboldtstroms vor der 3000 Kilometer langen Küste schwimmen Hunderte Fischarten, Tintenfische, Garnelen, Krebse, Hummer, Jakobsmuscheln, Austern. Im Andenhochland wachsen unzählige Mais- und Getreidearten, Gemüse, Kräuter, Wurzeln und natürlich Kartoffeln – mehr als 3000 Sorten sind bekannt- dazu kommen Lamas, Alpakas und Meerschweinchen. Hinter den Anden, im Amazonastiefland, tummeln sich Süßwasserfische und allerlei Wildtiere. Im Regenwald gibt es Maniok, Palmherzen und Kochbananen- Obstbananen, Papayas, Ananas und Früchte mit Namen wie Camu Camu, Aguaje, Cocona oder Chirimoya. Überall im Land wachsen Ajís, Chilischoten von hellgelb bis schwarz, von süß bis scharf.

Schon zu Zeiten der Inka, die im Westen Südamerikas über ein Imperium von der Größe Europas und über mehr als 200 Stämme herrschten, waren die Ajís Grundlage vieler Gerichte. Vom 16. Jahrhundert an brachten dann die spanischen Kolonialisten Rezepte für Käse, Fleisch und Eintöpfe mit, afrikanische Sklaven die Begeisterung für Zuckerrohr und allerlei Gewürze. Später folgten Einwanderer aus China mit ihrem Wok und schließlich die Japaner mit ihrer Liebe zum rohen Fisch.

Peru ist ein Schmelztiegel – doch lange wollten die einzelnen Teile nicht in einen Topf passen. Nachdem der spanische Eroberer Francisco Pizarro das Sonnenreich der Inka zerstört hatte, herrschten Monarchisten, Oligarchen, Tyrannen und Kleptokraten. Keinem von ihnen gelang es, aus dem geographischen Gebilde eine Nation zu formen. Und als in den achtziger Jahren auch noch massakrierende und bombenlegende Guerrilleros Hass säten, verließen Tausende das Land – aus Angst wie aus Scham.

„In Peru träumen die Jungs davon, Koch zu werden“

Erst im vergangenen Jahrzehnt begann Peru sich selbst zu finden. Es wurde von einer vibrierenden Aufbruchstimmung erfasst. In der Bevölkerung keimen Stolz und Selbstbewusstsein. Eine wichtige Rolle spielt dabei: das Essen. Einer der Protagonisten des neuen Perus ist Gastón Acurio: ein Koch.

Während der Jahre des Terrors ging Acurio nach Frankreich und Spanien, besuchte gegen den Widerstand seines Vaters, der für ihn die Juristenlaufbahn vorgesehen hatte, die Kochschulen Le Cordon Bleu und Sol de Madrid. 1994 kehrte er zurück nach Lima, eröffnete mit seiner deutschen Frau Astrid ein Restaurant – und kochte französisch. Doch dann begann er, immer mehr einheimische Zutaten zu verwenden, den natürlichen Reichtum Perus zu nutzen. Und so begründete Acurio die Fusión Andina, klassische Spitzenküche mit peruanischen Elementen. Ein riesiger Erfolg.

Das „Astrid &amp- Gastón“ in Lima wurde 2009 unter die 50 besten Restaurants der Welt gewählt. Acurio ist Herr über ein Gastroimperium mit 3500 Angestellten und einem geschätzten Umsatz von 100 Millionen Dollar. Er betreibt mehr als 30 Restaurants von New York bis Madrid, ist Moderator mehrerer Fernsehsendungen, Autor prämierter Kochbücher, Chef einer Kochschule. Der beliebteste aller Peruaner. Und Vorbild.

“In Brasilien und Argentinien wollen die Jungs Fußball spielen“, sagt Virgilio Martínez, der mehrere Jahre bei Acurio gearbeitet hat. „In Peru träumen sie davon, Koch zu werden.“

Lima ist die kulinarisch aufregendstens Stadt Amerikas

Der kulinarische Aufschwung Perus ist demokratisch. Gutes Essen ist allenthalben ein Thema und überall zu haben: in den sich immer schneller vermehrenden Gourmetrestaurants genauso wie vorm Surquillo-Markt in Lima, wo hutzlige Großmütter an ihren aus Plastikstühlen und Bastkörben zusammengeflickten Ständen Tamales verkaufen, in Bananenblätter gewickelten Maisteig mit Hähnchen- oder Rindfleisch, abgeschmeckt mit feuerroten Ajís. In den größeren Städten gibt es alle paar Meter „Chifas“, günstige chinesisch-peruanische Restaurants, in denen die Nachfahren der Einwanderer Rezepte aus China mit Zutaten aus Peru neu interpretieren. Mit großem Selbstbewusstsein nimmt die peruanische Küche alle Einflüsse an und für sich in Beschlag.

Lima hat sich so zur kulinarisch aufregendsten Stadt Amerikas entwickelt. Neben den Ruinen von Machu Picchu und Cuzco, der einstigen Hauptstadt des Inkareiches, gehört die Gastronomie inzwischen zu den wichtigsten Touristenattraktionen, ist ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor.

Gerichte wie das Ceviche wurden zum „Kulturerbe der Nation“ erhoben – es ist eine Art peruanisches Sushi: Roher Fisch aus dem Pazifik oder dem Amazonasbecken wird mit Limettensaft mariniert, mit roten Ají-Schoten, feingeschnittenen Zwiebeln, Sellerie und Koriander bestreut. Serviert wird es häufig mit geröstetem Mais oder Süßkartoffeln, die die kräftige Säure und die Schärfe abmildern. Auch vom Ceviche gibt es unzählige Abwandlungen, mal mit Muscheln, mal mit Garnelen, mal wird der Fisch in Würfel geschnitten, mal in feine Streifen wie beim japanischen Sashimi.

Sogar ein eigener Feiertag wurde dem Ceviche gewidmet, der 28. Juni, und auch viele andere Lebensmittel haben nicht nur einen symbolischen Platz im Kalender, sondern werden tatsächlich gefeiert: Am dritten Sonntag im Juli etwa, dem Tag des peruanischen Grillhähnchens, bevölkern die Menschen im ganzen Land die Bratereien und verputzen bis zu zwei Millionen „Pollos a la brasa“.

„Ich habe meine Identität zurückbekommen“

An Herd und Tisch ist damit im vergangenen Jahrzehnt gelungen, was Herrscher und Politiker zuvor nie geschafft hatten: das Bewusstsein einer Nation zu wecken. „Ich habe meine Identität zurückbekommen“, sagt Heimkehrer Virgilio Martínez.

Ausgerüstet mit den Techniken der internationalen Küche und dem neuen Nationalstolz gehört er zur zweiten Generation peruanischer Spitzenköche, die noch lokaler und zugleich innovativer denken. Sein Restaurant „Central“ in Lima ist im vergangenen Jahr zum besten Perus gekürt worden. Es verfügt über einen Wein- und einen Schokoladenkeller, eine Bibliothek, eine Umkehrosmose-Anlage zur Trinkwasserverfeinerung und einen eigenen Kräutergarten.

Die Inspiration für seine einzigartigen Rezepte sammelt Martínez im ganzen Land. Bei einem Ausflug in die Anden, erzählt er etwa, habe er auf 3500 Metern Höhe Rinder an einem See weiden sehen – und daraus sein Malaya-Steak entwickelt: 24 Stunden wird es gegart, dazu Andengemüse auf einer Soße aus Fisch und Algen, wie es sie in dem Bergsee gibt, verfeinert mit essbaren Blüten von den Feldern rundherum.

Das Fleisch des Andenschweins serviert Martínez mit den Früchten des Peruanischen Pfefferbaums, die das Tier selbst so gern frisst, als Beilage schwarzes Quinoa. Den Nachtisch „El Árbol De Graviola“ macht er aus den Früchten des Guanábanabaumes, Kakao, Kaffeepulver und Mandeln, Zutaten, die allesamt im Regenwald des Amazonastieflands wachsen. Das Gute liegt so nah – nach diesem alten Spruch komponiert Martínez perfekt abgestimmte Gerichte.

Und mit ebendiesem Bewusstsein und dem neuen Stolz auf die Heimat will Martínez wieder hinaus in die Welt. Erst vor kurzem hat er in London ein Restaurant namens „Lima“ eröffnet. Die peruanische Küche, ist sich Martínez sicher, steht erst am Anfang eines langen Siegeszuges. „Wir kochen lokal“, sagt er selbstbewusst. „Aber unsere Vision ist global.“