Gesellschaft

Ein Leben für Afrika

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Vor 100 Jahren ging Albert Schweitzer nach Afrika und gründete sein Urwaldhospital in Lambaréné. Seine Familie und der Staat Gabun wollen den Ort lebendig halten.

Es war ihr erster Sommer bei ihrem Großvater in Lambaréné. „Abends“, erzählt sie, „arbeitete er an seinem Schreibtisch, las und schrieb. Links auf dem Tisch saß die Katze, rechts hatte er auf einen Bogen Papier Zucker für die Ameisen gestreut. Dort sammelten sie sich und krabbelten ihm so nicht auf seinen Büchern herum.“ Für Christiane Engel war die Szene ein Sinnbild völliger Harmonie, ein Beispiel auch für die von Albert Schweitzer entwickelte Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Seine Leitidee: „Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden zuzufügen.“

Christiane Engel, drittes Kind der einzigen Tochter von Albert Schweitzer, war damals 16 Jahre alt. Sie hatte Schulferien und stand kurz davor, aufs Konservatorium in Zürich zu gehen. Ihr Traum: Sie wollte Pianistin werden. Zugleich aber gab es diesen mystischen Ort im fernen Afrika, wo ihr berühmter Großvater – Philosoph und Theologe, Organist und Mediziner, Pazifist und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1952 – lebte und wirkte. „Für mich war Lambaréné seit früher Kindheit eine Phantasie, in der vor allem wilde Tiere vorkamen“, erzählt Christiane Engel. „Was man aus Kinderbüchern eben so kennt.“

Das Lebenswerk in der Krise

Als sie schließlich 1958 erstmals nach Gabun fliegen durfte, übertraf die Phantasie alle Erwartungen, auch wenn wilde Tiere nur am Rande eine Rolle spielten. „Was Lambaréné mir gegeben hat, das ist so tief. Es hat mich sehr geprägt.“ Die Fähigkeit, mitleiden zu können und der Wunsch zu helfen bestimmten seither auch ihr Leben. Sieben Sommer in Folge verbrachte sie im Urwaldkrankenhaus mit ihrem Großvater, der ihr, wie sie sagt, „eine wahre Religion der Liebe auf ganz undogmatische Weise“ mit auf den Weg gab. Schnell stand für Christiane Engel fest, dass auch sie Medizin studieren werde, um mit Albert Schweitzer zusammen im Spital arbeiten zu können. Doch so weit kam es nicht mehr: „Ich hatte schon das Ticket in der Tasche, als er im September 1965 starb.“ Sie hatte gerade erst mit der Medizin begonnen, nun reiste sie zur Beerdigung ihres 90Jahre alt gewordenen Großvaters. Danach war sie für längere Zeit nur noch einmal in Lambaréné, auch weil das Geld für den Flug, den ihr der Großvater stets als Lohn für ihre Arbeit geschenkt hatte, ausblieb.

Ihre Mutter aber trat nach Schweitzers Tod zunächst an die Stelle des Vaters und übernahm die administrative Leitung des Spitals. Fünf Jahre hielt Rhena Schweitzer es an der Spitze aus, dann gab sie auf, blieb aber weiterhin in Lambaréné. Die Arbeit, sagt ihre Tochter Christiane, sei sehr komplex gewesen. „Damals standen hier viel mehr Gebäude, im Krankenhaus lagen 600 Patienten, hinzu kamen noch 200 Personen im Lepradorf, die versorgt werden mussten.“ Zusehends geriet Schweitzers Lebenswerk in die Krise. Die Schulden wuchsen, die Spendengelder für das Urwaldhospital flossen nicht mehr so wie zu Lebzeiten seines Gründers. Schließlich wurde die „Internationale Stiftung für das Dr.Albert-Schweitzer-Spital in Lambaréné“ gegründet. Fortan beteiligte sich auch Gabun mit Subventionen an der noch immer privaten Institution.

Im 100. Jahr seines Bestehens präsentiert sich das Gelände rund um das Krankenhaus am Ogooué als eine große Baustelle. Wo einst Missionare auszogen, um über den 1200 Kilometer langen Fluss bis weit nach Zentralafrika vorzudringen, entsteht derzeit ein internationales Forschungs- und Gesundheitszentrum, das ohne Albert Schweitzer nicht denkbar wäre. Der Präsident des Landes, Ali Bongo Ondimba, hat das „Projekt Lambaréné“ zur Chefsache erklärt. Schon sein Vater Omar Bongo Ondimba hatte die Kraft des großen Namens erkannt und 1996 die alte Erdstraße von der Hauptstadt Libreville nach Lambaréné asphaltieren lassen. Seither dauert die Fahrt mit dem Auto statt acht nur noch vier Stunden, und es gibt einen regen Krankentourismus in das Urwaldhospital.

Der Bedarf an guter Gesundheitsvorsorge wächst im Land. Und auch das Interesse an dem unzweifelhaft berühmtesten „Gabuner“ ist in seinem Jubiläumsjahr stetig größer geworden. Schweitzer, 1875 im damals noch deutschen Elsass geboren, fand wunschgemäß an der Seite seiner Frau seine letzte Ruhestätte in Westafrika. Bis heute glauben die Menschen in Lambaréné, dass der „weiße Mann“, den sie ehrfürchtig „Nganga“ nennen, nachts an seine alte Wirkungsstätte zurückkehrt. Ein Nganga hat überirdische Kräfte, ist eine Art Geistheiler, der auch aus der Ferne Gutes tun kann. Tatsächlich kann Albert Schweitzer als einer der ersten Ärzte ohne Grenzen gelten, der Medizin, im europäischen Sinne, nach Französisch-Äquatorialafrika, dem heutigen Gabun, brachte. Vor 100 Jahren, im April 1913, behandelten Schweitzer und seine Frau Helene erstmals Patienten im Hühnerstall der schon existierenden französischen Missionsstation Andende, nach der heute ein Stadtteil der Provinzhauptstadt Lambaréné benannt ist. Für die Menschen wirkten die beiden tatsächlich Wunder, was sich schnell herumsprach. Die Patientenzahlen stiegen, bis zum Ende des Jahres wurde schon eine erste Wellblechbaracke als Krankenhaus errichtet.

Urwaldhospital nach eigenen Wünschen gestalten

Drei Mal musste Albert Schweitzer danach ganz von vorne beginnen. Als Deutscher wurde er im Ersten Weltkrieg in der französischen Kolonie festgenommen und 1917 nach Europa gebracht. Erst 1924 hatte er, als Elsässer war er 1918 zum Franzosen geworden, genügend Geld beisammen, um ein zweites Mal nach Westafrika aufbrechen zu können. In kurzer Zeit baute er das kleine Spital wieder auf und verließ es 1927 ein weiteres Mal – aus Platzgründen, aber auch um dem Einfluss der Pariser Missionsgesellschaft zu entkommen. Der inzwischen Zweiundfünfzigjährige zog drei Kilometer flussabwärts und fand seine endgültige Bleibe auf einem Hügel direkt am Fluss Ogooué. Nun erst konnte er sein Urwaldhospital nach seinen Wünschen gestalten.

Unweit der dort nach und nach entstandenen Spitalgebäude errichtet die Regierung von Gabun derzeit ein Universitätsgelände mit Wohnungen für Studenten und Professoren. Mit Gästen aus aller Welt und an der Seite von einigen Mitgliedern der Schweitzer-Familie, neben Enkelin Christiane Engel ist unter anderen auch Großneffe Louis Schweitzer nach Gabun gekommen, konnte am Wochenende das neue Regionalkrankenhaus Georges Rawiri, benannt nach einem in Lambaréné geborenen Politiker und Dichter, eröffnet werden. Campus, Universität und das Regionalkrankenhaus werden unabhängig von dem eigentlichen Nachlass Albert Schweitzers geführt, die vier Institutionen arbeiten allerdings zusammen.

Präsident Ali Bongo will mit seinen Initiativen zum Vorbild Afrikas werden. Das scheint in einem Land, das um einiges größer ist als die alte Bundesrepublik Deutschland war, aber nur etwa so viele Einwohner wie die Stadt München hat, kein Problem zu sein. Zudem besteht Gabun, dessen Staatshaushalt sich zu 50 Prozent aus Öleinnahmen finanziert, zu Dreiviertel aus weitgehend unberührtem Regenwald, der so gut wie nicht besiedelt ist. Trotzdem ist ein Teil der Bevölkerung, die zu fast 90 Prozent in städtischen Gebieten lebt, nur schwer zu erreichen.

Vieles lag zudem im Argen, als der Sohn des mehr als 30 Jahre regierenden Omar Bongo 2009 zu dessen Nachfolger gewählt wurde. Der 54 Jahre alte Ali Bongo will nun allerdings seinem Volk und Land offenbar Gutes tun. So nimmt die nachhaltige Entwicklung Gabuns in seiner Politik einen wichtigen Platz ein. Elf Prozent des Staatsgebietes sind inzwischen als Nationalparks ausgewiesen, die Jagd auf gefährdete Tierarten ist verboten und wird verfolgt (Wilderer gibt es trotzdem genügend), die Abholzung der Wälder ist staatlich sanktioniert, Brandrodung kennen die Gabuner eigentlich nicht. Zudem gehört das Land zu den wenigen afrikanischen Staaten, das 2011 einen nationalen Klimaschutzplan erarbeitet hat.

Regierung zahlt immerhin pünktlich

Auch die Bedeutung von Bildung und Gesundheit will Ali Bongo nach eigenen Angaben erkannt haben. Um möglichst viele seiner Landsleute zu erreichen, baut der Präsident zum Beispiel bei der Gesundheit aufs Militär. Jedes Jahr ziehen Soldaten gemeinsam mit Ärzten in eine der neun Provinzen Gabuns (in diesem Jahr ist es natürlich Lambaréné), wo sie dann für mehrere Tage ihre Zelte aufschlagen, um möglichst viele Bewohner in kürzester Zeit zu erreichen. Der Gesundheitsservice reicht vom richtigen Zähneputzen, über HIV- und Malaria-Aufklärung bis hin zum kompletten Impfschutz von Kindern.

Die Ausgaben der Regierung für Gesundheit haben sich so nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation seit 2002 pro Einwohner mehr als verfünffacht, von rund 40 auf mehr als 200 Dollar (in Deutschland waren es 2011 rund 3700 Dollar pro Einwohner). Medizinische Behandlungen übernimmt der Staat zu 80 Prozent, 20 Prozent muss der Kranke selbst aufbringen, was viele der Gabuner allerdings noch längst nicht können. Während Ali Bongo zu den reichsten Staatsoberhäuptern der Welt zählt, das Geld und die Besitztümer etwa in Frankreich hat er von seinem Vater geerbt, sind viele Landsleute arm und arbeitslos. Auch das ist ein Nachlass des Vaters, der das halbe Volk in den Staatsdienst aufgenommen hatte. Die Regierung zahlt immerhin pünktlich den Lohn. Das erklärt unter anderem, warum 653 der offiziell 742 Ärzte im Land beim Militär Dienst tun.

Auch Christiane Engel sagt, sie habe anfangs nicht gewusst, was sie von Präsident Ali Bongo halten solle. Zweimal trafen sich die beiden dann privat in Lambaréné. Beim zweiten Treffen sei das Eis gebrochen, erzählt die Enkelin, die inzwischen in Los Angeles lebt, sich dem Erbe ihres Großvaters aber weiterhin verpflichtet fühlt. „Ali Bongo wünscht ganz enge und intensive Beziehungen mit dem Spital meines Großvaters.“ Eine Million Dollar hat er bereits zur Verfügung gestellt, Geld, mit dem die alten Gebäude weitgehend neu aufgebaut werden müssen. „Eine Renovierung käme uns teurer als ein Neubau“, sagt Christiane Engel. Nur das ehemalige Krankenhaus ihres Großvaters, der Ort, an dem er mit seiner Frau Helene (sie starb 1957) bis zuletzt lebte, bleibt davon unberührt. Es wurde bereits restauriert und ist nun ein Museum, in dem sich die privaten Räume Schweitzers mit seinen medizinischen Geräten, seinem Bett, aber auch seinem Klavier befinden.

Die musikalische Begabung hat Christiane Engel von ihrem Großvater geerbt, der, noch bevor er sich als Spätberufener der Medizin verschrieb, sich bereits in Theologie habilitiert und zugleich Orgel bei dem berühmten Organisten Charles-Marie Widor in Paris studiert hatte. Hunderte Konzerte hat Albert Schweitzer in seinem Leben gegeben, um Geld zu beschaffen. Auch darin folgt ihm seine Enkelin, die als Doktorin der Medizin am Klavier zu den anerkannten Interpretinnen Mozarts zählt. Unermüdlich reist sie auch mit 70 Jahren um die Welt und versucht, das Erbe ihrer Familie zu bewahren.