Wirtschaft

Überleben im Krieg

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Der Bürgerkrieg in Syrien hat Fabriken, Schulen und Krankenhäuser zerstört.Der Gesamtschaden wird auf 60 bis 80 Milliarden Dollar geschätzt. Das Land zehrt noch von Rücklagen und überlebt dank der Solidarität seiner Bürger.

Seine Fabrik hat der Unternehmer Nadschi Ali Adib seit Anfang des Jahres nicht mehr gesehen. Sie liegt, wie die meisten Fabriken im Großraum Damaskus, am Rande der Hauptstadt, also dort, wo sich die syrische Armee und die bewaffneten Rebellen bekämpfen. Bisher hat Ali Adib Glück gehabt. Die Rebellen haben die beiden Fabriken neben seinem pharmazeutischen Betrieb bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Denn sie hatten auch Alawiten beschäftigt, Angehörige der Religionsgemeinschaft von Machthaber Baschar al Assad. Ali Adib weiß, dass er sich mit beiden gut stellen muss – mit dem Regime und mit den Rebellen.

Seither ist der Betrieb von Ali Adib, neben den vielen kleinen Farmen, der einzige Arbeitgeber in diesem ländlichen Außenbezirk von Damaskus. Einige wohnen nahe genug an dem Gelände, so dass sie ohne zu große Gefahren jeden Tag an ihre Arbeitsstätte kommen können. Sie haben nur wenige Straßenkontrollen zu passieren, müssen sich nicht lange auf den gefährlichen Straßen aufhalten. Im Betrieb selbst läuft die Produktion mit Hilfe der Fernbedienungen und Videokameras an, die Bilder in das Stadtbüro des Unternehmens übertragen. Von dort steuern die Fachleute die Produktion, hergestellt werden nur noch einfache Produkte.

„So lasten wir die Produktionskapazität noch zu 10 Prozent aus“, sagt Ali Adib. Von den Unternehmen, die noch intakt seien, kenne er keines, das mit mehr als 30 Prozent ausgelastet sei. Selbst diese bescheidene Menge ist jeden Tag eine große Herausforderung. Zunächst hatten die Rebellen den gesamten Diesel für die Generatoren an sich gerissen. Nun gilt es, jeden Tag irgendwie zumindest kleine Mengen Diesel aufzutreiben. Die Verhandlungen mit den Rebellen sind eine Gratwanderung. Gibt man den einen von ihnen Geld, kommen auch andere. „Es gibt weder Recht noch Ordnung“, klagt der Unternehmer. Würde er die Arbeit ganz einstellen, würden die Rebellen das Gelände besetzen und die Armee würde sie bombardieren. „Die die Fabrik beschützen, sind Helden“, lobt Ali Adib seine Beschäftigten.

Helden sind auch Unternehmer wie er, die ihre Fabriken nicht schließen und trotz hoher Verluste niemanden entlassen, sondern alle Beschäftigten weiterbezahlen. „Schließlich ist es meine Pflicht, den Menschen beizustehen“, sagt Ali Adib. Heute verstehe sich sowieso jeder Unternehmer als karitativer Wohltäter. Wenn in einer Familie nur eine Person ein Einkommen hat, wird es geteilt. „Diese Solidarität hält Syrien zusammen.“ Am Jahresende wird er aber seine Rücklagen aufgebraucht haben, und er weiß nicht, wie er seine Beschäftigten dann weiterbezahlen soll.

Ein Jahr weiter rechnet Abdallah Dardari. Er war bis Anfang 2011 Mitglied im syrischen Kabinett. Als Planungsminister und zuletzt auch stellvertretender Ministerpräsident sollte er die stark regulierte syrische Wirtschaft öffnen, was ihm teilweise auch gelang. Die ideologischen Hardliner in der sozialistischen Baath-Partei machten ihn dann für den Ausbruch der Proteste verantwortlich. Dardari kehrte zu den Vereinten Nationen zurück, und seit einem Jahr steht er in Beirut einer Arbeitsgruppe vor, die den Wiederaufbau des Landes vorbereitet. Die „Nationale Agenda für die Zukunft Syriens“ heißt der Plan, den sie erarbeiten. Dieser geht davon aus, dass der Konflikt im Jahr 2015 endet.

Der Bürgerkrieg hat Fabriken, Schulen und Krankenhäuser zerstört

Die Arbeitsgruppe, die in der „Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien der UN“ (UNESCWA) angesiedelt ist, hat den Schaden des seit fast 30 Monaten dauernden Bürgerkriegs auf 60 Milliarden bis 80 Milliarden Dollar geschätzt- das ist mehr als das bisher höchste Bruttoinlandsprodukt Syriens von 60 Milliarden Dollar im Jahr 2010. Vieles wurde während der Kampfhandlungen systematisch zerstört: Fabriken und Ölleitungen, Schulen und Krankenhäuser, nicht zu sprechen von den nicht zu ersetzenden archäologischen Schätzen des Landes.

Besonders stark vom Krieg betroffen ist Aleppo, das wirtschaftliche Zentrum Syriens. Wie in Damaskus liegen auch hier die meisten Industriebetriebe am Übergang von der Stadt in die Peripherie. In Aleppo sei jeder zweite Industriebetrieb geplündert worden, sagt Faris Shihabi, ein Unternehmer als Aleppo, der Vorsitzender der Industrie- und Handelskammer zu Aleppo ist und der Vorsitzende des syrischen Kammerdachverbands. Eine Million Syrer hätten dadurch ihre Arbeit verloren. Nur noch eine seiner Fabriken funktioniert, und er fühlt sich heute in Damaskus sicherer als in seiner Heimatstadt. Mehr als tausend Unternehmer seien entführt worden, in der Regel von Rebellen, Hunderte wurden hingerichtet. Aleppos Wirtschaft, die vor allem Textilien und landwirtschaftliche Produkte verarbeitet, aber auch die meisten Produkte für den täglichen Bedarf erzeugt hat, steht damit still.

Gegen die Rebellen und die türkische Regierung erhebt der Unternehmer Faris Shihabi den schweren Vorwurf, die Industrieanlagen von Aleppo zu plündern, über die Grenze in die Türkei zu bringen und dort auf Auktionen zu verhökern. Aus keinem anderen Land kamen 2013 in der Türkei mehr ausländische Investoren als aus Syrien. In den ersten sieben Monaten 2013 verdrängten syrische Investoren, meist Mittelständler, sogar Deutschland vom Spitzenplatz, das traditionell die meisten Firmengründungen mit ausländischem Kapital stellt. Der Raum nördlich von Aleppo, den die Rebellen und die Dschihadisten kontrollieren, hat damit einen intensiveren Wirtschaftsaustausch mit der Türkei als mit der Hauptstadt Damaskus, die kaum mehr erreichbar ist.

In Beirut rechnet Dardari vor, dass allein, um die in Syrien zerstörten 1,2 Millionen Häuser wieder aufzubauen, 22 Milliarden Dollar benötigt würden. Seine Arbeitsgruppe hat zudem Listen von 3000 zerstörten Schulen und 2000 zerstörten Fabriken erstellt. Auch die Hälfte des Gesundheitssystems soll zerstört sein. Für die Wiederherstellung der Versorgungsleistungen für Elektrizität, Wasser und Gas setzt Dardari 6 Milliarden Dollar an. Mit Priorität wird die Ölindustrie wiederaufgebaut werden müssen. Syrien hatte bis zum Ausbruch des Kriegs jeden Tag 380.000 Barrel Rohöl produziert und davon fast die Hälfte exportiert, vor allem nach Europa.

Diese wichtige Säule und jährliche Einnahmen von 3 Milliarden Dollar brachen mit dem Ölembargo der EU gegen Syrien weg. Zudem kontrollieren die Rebellen die wichtigsten Ölfelder im Osten Syriens, während die Regierung die Raffinerien in Homs kontrolliert. Die Rebellen exportieren das Rohöl in kleinen Mengen und haben damit Einnahmen, die Raffinerien aber stehen still.

Dardaris Plan geht, neben der Annahme, dass der Krieg 2015 enden wird, von einer zweiten Annahme aus: dass Syrien als Staat in seinen heutigen Grenzen intakt bleibt. Das ist unwahrscheinlicher, je länger der Krieg dauert. Ohne einen funktionierenden Staat und ohne Recht und Ordnung wird aber niemand in dieses Land investieren. Dardari gewinnt diesem Szenario etwas Gutes ab: „Dann denken die Akteure stärker über eine politische Lösung nach.“

Es gibt Wasser und nicht so häufig Strom

In Damaskus weiß auch Ali Adib, dass es ohne Recht und Ordnung keine Wirtschaft geben kann. „Ich versuche zu überleben – der Regierung zum Trotz und den Sanktionen zum Trotz“, sagt er. Der Staatsapparat sei weiter ineffizient und korrupt. „Zumindest haben wir aber einen Staat, und nur den einen.“ Die wichtigsten staatlichen Dienste funktionieren: Es gibt Wasser und nicht so häufig Strom, Krankenhäuser sind geöffnet, und Kinder gehen in die Schule, wo dies möglich ist. Für irrelevant hält er die Diskussion, ob jemand für das Regime sei oder nicht. Entscheidend sei doch: „Ohne einen Staat, ohne Recht und Ordnung, kann man nicht leben.“ So wollten heute die meisten Syrer einfach nur ihr gewohntes Leben zurück.

Noch mehr als der träge Staat machen dem Unternehmer die Sanktionen des Westens zu schaffen, die Ali Adib zynisch nennt. „Die Folge ist, dass nur noch die wenigsten internationalen Unternehmen mit einem syrischen zu tun haben wollen.“ Alles schreckt ab: Zu viel Papierkram, ein zu großes Risiko, und Syrien ist ja ohnehin kein großer Markt. Kaum mehr möglich ist der Import von Waren- und wenn er möglich ist, wird er teuer. Ein Syrer könne heute nicht einmal einen Dollar auf ein internationales Konto überweisen. Teuer ist aber der Transfer von Geld über Geldhändler, das gilt auch für den Abschluss von Versicherungen für Lieferungen. Als Folge ist die syrische Wirtschaft wieder auf dem Niveau einer primitiven Bargeldwirtschaft angekommen.

Alle spüren, dass sich seit dem Beginn des Kriegs der Wechselkurs des syrischen Pfund gegenüber westlichen Währungen halbiert hat. Für viele Syrer werden Importwaren unerschwinglich, zusammengebrochen ist aber die einheimische Produktion. Wer noch produziert, greift auf Rohstofflager zurück, die er einmal gekauft hat. Ali Adib resigniert nicht, auch wenn er sagt: „Ein Händler kann aufhören zu handeln, ein Fabrikant aber nicht.“ Denn der habe Beschäftigte und Rohstoffe, Investitionen, für die er bereits bezahlt habe. „Selbst wenn ich Geld verliere, produziere ich weiter.“