Europäische Union

Unsichere Perspektiven

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Es scheint unwahrscheinlich, dass es zum Bruch der Koalition durch die Partei „Volk der Freiheit“ kommt. Sie will wegen des Urteils gegen Silvio Berlusconi vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.

Nachdem Silvio Berlusconi bei einer Demonstration seiner Anhänger markige Töne von sich gegeben hat, zeigt sich nun, dass nach der endgültigen Verurteilung wegen Steuerbetrugs immer noch keine erfolgversprechenden Strategien für die politische Zukunft des „Cavaliere“ und seiner Partei „Volk der Freiheit“ (PdL) gibt. Der zu Berlusconis Partei gehörende Minister für die Verfassungsreformen, Gaetano Quagliarello, sagte nun zwei italienischen Zeitungen, dass am Sonntag, dem Tag der Demonstration, bereits geplant war, die Koalition für die Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta aufzukündigen.

Doch in der Rede vor seinen Anhängern hat Berlusconi schließlich neben kämpferischen Tönen doch seine vorläufige Unterstützung für die Regierung bekundet: „Wir sind nicht unverantwortlich, die Regierung muss weitermachen.“ Die Darstellung des PdL-Ministers wirft nun ein Licht auf die lebhafte Diskussion im Führungszirkel der Partei, mit dem sich Berlusconi an seinem römischen Wohnsitz Palazzo Grazioli immer wieder zu stundenlangen Beratungen trifft. Berichtet wird, dass Berlusconis Haltung vor dem Urteil von den diplomatischen und verständigungswilligen Mitgliedern der Parteiführung dominiert worden war.

Berlusconi soll über alle Maßen erzürnt gewesen sein

Er hatte zusätzlich zu seinem Verteidiger Nicola Ghedini noch Franco Coppi als Spezialisten für den Obersten Gerichtshof engagiert, der nicht nur als Professor, sondern auch als erfolgreicher Verteidiger des ehemaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti bekannt geworden war. Berlusconi war zu versöhnlichen Tönen vergattert worden, Demonstrationen wurden abgesagt. Doch nach dem Urteil soll der Parteichef nach Medienberichten gegenüber seinen „Diplomaten“ über alle Maßen erzürnt gewesen sein.

Doch inzwischen hat sich herausgestellt, dass auch die PdL-Falken keine zusätzlichen Optionen bieten können. Die beiden Fraktionsvorsitzenden der Partei im Senat und im Abgeordnetenhaus, Renato Schifani und Renato Brunetta, hatten gleich nach dem Urteil am Donnerstagabend in ultimativer Form nach einer Begnadigung Berlusconis durch Staatspräsident Giorgio Napolitano gerufen. Am Montag wurden die beiden offiziell vom Staatspräsidenten zu einem Gespräch empfangen, kehrten aber mit leeren Händen zurück.

Offenbar wurde ihnen bedeutet, dass Napolitano im Moment nicht über eine Begnadigung sprechen will. Offiziell ließ der Staatspräsident mitteilen, er befinde sich im Moment in einer Phase des Nachdenkens und der fachlichen Vertiefung der Details, weshalb alle weiteren Unterstellungen über seine persönliche Orientierung gegenstandslos seien.

Die Hoffnung, dass der Staatspräsident die Haft- in eine Geldstrafe umwandeln könne

Aus Berlusconis Lager wird zwar noch weiter die Hoffnung am Leben erhalten, dass der Staatspräsident die Haftstrafe in eine Geldstrafe umwandeln könne. Das ist vor kurzem im Fall des Chefredakteurs Alessandro Sallusti geschehen, der aber nur wegen falscher Behauptungen eines Kommentators verurteilt worden war. Bei Berlusconi fordern dagegen die Demokraten und die noch schärferen Berlusconi-Gegner in der Opposition, dass die Strafe auch vollstreckt wird. Daher sind weitere Überlegungen wie die einer generellen Amnestie oder einer Begünstigung Berlusconis durch eine Justizreform nur Gedankenspiele für die Tagespolitik.

Denn der Staatspräsident hat zwar kurz nach dem Urteil von der Notwendigkeit einer Justizreform gesprochen, doch würden die Koalitionspartner Berlusconis darauf achten, dass dabei keine „Lex Berlusconi“ entstünde. Amnestien hat es zwar immer wieder gegeben, weil Italiens Gefängnisse überfüllt sind, doch dafür wird eine Zweidrittelmehrheit im Parlament benötigt. Außerdem kann Berlusconi bei der Verbüßung seiner Strafe ohnehin schon von einem allgemeinen Straferlass von drei Jahren profitieren, der in der Amtszeit des demokratischen Ministerpräsidenten Romano Prodi im Jahr 2006 mit Unterstützung vieler PdL-Stimmen beschlossen worden war.

Berlusconi wird daher nach Ende der Gerichtsferien Mitte September einen offiziellen Bescheid erhalten, dass er bis Mitte Oktober wählen dürfe zwischen einem Jahr Hausarrest und einem Jahr gemeinnützigem Sozialdienst. Die Hardliner in der Partei haben dazu zwar schon angekündigt, dass Berlusconi als Märtyrer ins Gefängnis gehen werde, doch ist darüber das letzte Wort noch nicht gesprochen. Mehr Kopfzerbrechen bereitet im Moment die Frage nach Berlusconis Mandat im Senat und seiner Wählbarkeit in der Zukunft.

Der Oberste Gerichtshof hatte dazu einem Mailänder Berufungsgericht die Aufgabe gegeben, die Frist der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, die ursprünglich auf fünf Jahre festgelegt war, noch einmal nachzurechnen, bei einem Rahmen von einem bis drei Jahren. Doch zugleich wurde nun festgestellt, dass ein Gesetz gegen Korruption der Regierung von Mario Monti von 2012, beschlossen mit den Stimmen des PdL, den 76 Jahre alten Berlusconi auf Jahre hin unwählbar machen würde. Nun ist eine Debatte darüber entbrannt, ob das Gesetz auch schon auf Berlusconis Straftaten im Jahr 2002 und 2003 angewandt werden müsse.

Marina Berlusconi ziert sich angeblich

Für einen Bruch der Koalition unter Ministerpräsident Letta sind dies keine günstigen Voraussetzungen. Dazu wird ohnehin berichtet, die Meinungsumfragen besagten, dass zwei Drittel von Berlusconis Wählern im Moment keine Neuwahlen wollten, wie sie den Hardlinern im PdL vorschweben. Die haben aber auch nicht die Rechnung mit dem Staatspräsidenten gemacht, der keine Neuwahlen mit dem alten Wahlgesetz haben will, gegen das nun auch noch eine Verfassungsklage anhängig ist. Ebenso unsicher sind die Perspektiven für etwaige Wahlen. Denn dabei erwies sich bisher immer der Name Berlusconi als Zugpferd.

Der Parteigründer und manche seiner Anhänger wünschen sich nun, dass künftig seine Tochter antritt, die bald 47 Jahre alte Marina Berlusconi, die derzeit als Präsidentin der Familienholding Fininvest und des Verlages Mondadori fungiert. Doch Marina Berlusconi ziert sich angeblich, sie ist eher publikumsscheu und bisher nicht durch rhetorisches Talent aufgefallen. Als erfolgversprechender sieht nun der „diplomatische“ Flügel der Partei eine andere Strategie an: mit dem Urteil gegen Berlusconi vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen, unter anderem mit dem Argument, dass die Gerichte keinen einzigen der von der Verteidigung benannten 171 Entlastungszeugen gehört hätten.