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Das Wir entscheidet dann ja noch

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Hannelore Kraft hat nach der Wahl die SPD-Basis aufgescheucht. Nun muss sie dafür werben, den Weg in die große Koalition zu gehen. Für die beliebteste deutsche Sozialdemokratin steht viel auf dem Spiel.

Hannelore Kraft nahm sich viel Zeit im Palais der Parlamentarischen Gesellschaft. Es war inzwischen kurz vor sechs Uhr am Donnerstagabend, der Himmel über Berlin hatte sich zugezogen und Regen eingesetzt. Angela Merkel war nach der letzten, kurzen Sondierungsrunde von Union und SPD sogleich lächelnd verschwunden, Horst Seehofer flachste noch ein bisschen mit den Journalisten und Sigmar Gabriel erläuterte im Reichstagsgebäude die Einigung, bevor er ins Palais zurückging, um sich im kleinen Kreis zu besprechen. Der SPD-Vorsitzende, Andrea Nahles, Olaf Scholz und eben Kraft hatten bereits den nächsten Schritt vor Augen: den Parteikonvent am Sonntag.

Formulierungen für die Beschlussempfehlungen für die Delegierten des Parteikonventes wurden nun gesucht. Nach und nach verließen die Führungsleute den Friedrich-Ebert-Platz. Am Ende war die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin ganz allein. Ihr für die Kameras inszenierte Auftritt auf dem Balkon des Palais‘ an der Seite Alexander Dobrindts, der später vom CSU-Generalsekretär, mit dem sie in der zweiten Sondierung am Montagabend lautstark aneinandergeraten war, zum Versöhnungsakt erklärt wurde, lag da schon Stunden zurück. Nun verließ auch sie das Gebäude. Verschanzt hinter einem Regenschirm, den eine Mitarbeiterin hielt, ging sie schnelles Schrittes zu ihrem Auto. Das brachte sie zum ZDF-Hauptstadtstudio, wo sie dann für die Abendnachrichten die vielsagenden Worte äußerte: Es sei um die Frage gegangen, gebe es nach den Sondierungen Grundpfeiler, die Koalitionsverhandlungen rechtfertigten? „Das mussten wir hinterher einstimmig bejahen.“

Was wollte Kraft?

Nun könnten Psychologen zu ergründen versuchen, wen Kraft mit „wir“ meinte. In der engeren SPD-Führung war nämlich schon längere Zeit der Wille vorhanden, diese Frage grundsätzlich bejahen zu wollen, nicht nur zu müssen – und zwar von Gabriel über Nahles bis hin zu Frank-Walter Steinmeier, also drei Genossen, die in den vergangenen vier Jahren, zurückhaltend formuliert, nicht immer einer Meinung waren. Nur die nordrhein-westfälische SPD-Vorsitzende hatte nach der Bundestagswahl tagelang Widerstand geleistet: Die SPD sei bei der Bundestagswahl nicht angetreten, um als Mehrheitsbeschafferin die Union an der Regierung zu halten, lautete eine ihrer Parolen, über die es später in der Bundespartei hieß: „NRW läuft Amok“.

Dabei war übrigens die Frage, ob die Mitglieder am Ende über einen schwarz-roten Koalitionsvertrag befragt würden, gar nicht so furchtbar strittig. Überlegungen dazu gab es schon vor dem 22. September. Gabriel hatte die vor zwei Jahren beschlossene Parteireform angestoßen, welche breite Mitgliederbeteiligungen vorsieht. Wann wenn nicht in dieser schwierigen Koalitionsfrage hätten derlei Instrumente besser angewendet werden können? Für die Berliner Parteiführung war es in dieser Situation jedoch extrem wichtig, Ruhe zu bewahren und die Basis behutsam auf das vorzubereiten, was nun kommen würde. Und da waren die Wortmeldungen aus Düsseldorf, gelinde gesagt, nicht hilfreich. Was wollte Kraft also? Den Preis hochtreiben?

Eine schriftliche Vereinbarung – quasi einen Vorvertrag – zwischen Union und SPD gab es am Donnerstag nicht, aber doch Kompromisskorridore und das Vertrauen darauf, dass es zu einer Einigung kommt, deren Kern heißt: Flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro und (auch den Ländern zugute kommende) Infrastrukturprojekte und Bildungsinvestitionen sowie Neuregelungen der Bund-Länder-Finanzen gegen den Verzicht auf Steuererhöhungen – zumindest solange die Konjunktur Geld in die Staatskassen spült. Das wiederum ist am Ende nicht richtig überraschend, weshalb von Preishochtreiben wohl nicht die Rede sein kann.

Gabriel einhegen

Am Montag nach der Bundestagswahl waren Kraft und Norbert Römer in Düsseldorf vor die Presse getreten. Römer, der nicht nur Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion ist, sondern auch Chef des SPD-Regionalverbands westliches Westfalen, ließ mehrfach wissen, eine große Koalition sei nicht im Interesse Nordrhein-Westfalens. Seine Darlegungen gipfelten schließlich in zwei Sätzen: „In der nordrhein-westfälischen SPD gibt es überhaupt niemanden, der die große Koalition will. Wir streben sie nicht an, und am Ende wird es sie nicht geben.“ Kraft rückte Römers Worte ausdrücklich nicht zurecht. Nur fügte sie an, man werde sich Gesprächen nicht verweigern. Kraft präsentierte sich als Anwältin der Basis und sprach über die Notwendigkeit, die Gremien und Mitglieder „breit zu beteiligen“.

Im ersten Sondierungsgespräch mit CDU und CSU in Berlin, wurde Krafts Auftritt von Teilnehmern als übellaunig und kratzbürstig beschrieben. Obschon sie in ihren öffentlichen Äußerungen deutlich mildere Töne anstimmte, nährten derlei Berichte über ihr internes Auftreten Spekulationen über ihre wahren Absichten. Manche unterstellten ihr, eine große Koalition aus kaltem Machtkalkül verhindern zu wollen. Nur wenn die SPD in der Opposition bleibe, könne Kraft ihre Rolle als Koordinatorin der SPD-geführten Länder im Bundesrat voll ausspielen und sich als Gegenspielerin der Bundesregierung profilieren. Die Ministerpräsidentin ließ solche Interpretationen zurückweisen. So „ticke“ sie nicht, hieß es. Sie wolle die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Es gehe ihr ausschließlich um Inhalte.

In Berlin wurde Krafts Verhalten mit ihrer Beziehung zu Gabriel erklärt: „Hannelore“ gehe es um ihre Position in der Bundes-SPD. Vorerst strebe sie sicher nicht nach dem Parteivorsitz oder gar nach mehr in Berlin. Doch um ihre Position als mächtigste Landesvorsitzende zu sichern, galt es, Gabriel auf seinem Weg in die Vizekanzlerschaft einzuhegen. Indes kommen selbst Gabriel-Skeptiker in der Bundespartei, die Krafts Anliegen grundsätzlich teilen, zu dem Ergebnis, sie habe sich verrannt. Es sei eine Sache, dem Bundesvorsitzenden zu bedeuten, er habe auch künftig am Kabinettstisch neben Angela Merkel die Interessen der SPD-regierten Länder zu beachten, eine andere aber, die SPD-Mitglieder auf die Bäume zu treiben.

Runter klettern fällt schwerer

Kraft betreibt Politik Schritt für Schritt, fährt häufig „auf Sicht“ – so wie 2010, als es nach der Landtagswahl keine klaren Mehrheitsverhältnisse in Nordrhein-Westfalen gab. Ihre Überlegungen sind meist kurzfristig-taktischer, selten strategischer Natur. Auch ihre Rolle als „Skeptikerin vom Rhein“ hatte sie nicht abschließend analysiert. Und so kam es, dass sie in der Öffentlichkeit als „Madame No“ beschrieben wurde. Nach dem 22. September stilisierte sie sich als Stimme der Basis. Jene Genossen, die eine große Koalition um keinen Preis wollten, fühlten sich von ihr verstanden. Nun fällt es ihr eben deshalb wie keinem anderen Sozialdemokraten zu, zunächst am Sonntag auf dem Konvent für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zu werben – und später dann, vor der Mitgliederbefragung, für den Koalitionsvertrag.

Wie sie am Sonntag im Berliner Willy-Brandt-Haus vorgehen dürfte, hat kürzlich einer ihrer Fürsprecher in der Berlin, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Joachim Poß aus Gelsenkirchen, angedeutet: „Gott sei Dank“, sagte er, habe Kraft die Initiative ergriffen und einen Beschluss des Landesvorstandes herbeigeführt, mit dem der ganze Willensbildungsprozess in der SPD in Richtung Mitgliederbefragung strukturiert wurde. Ärger mit Gabriel? Ach wo! „Olle Kamellen“, sagte Poß. Nur um Inhalte sei es gegangen.

Noch am Donnerstagabend – nach der abschließenden Sondierung in Berlin – zeigte sich, dass die SPD-Führung bis zur Mitgliederbefragung nicht nur über die Hürde des Konvents kommen muss. In einer Telefonkonferenz mit dem SPD-Vorstand erhielt Gabriel noch keine eindeutige Rückmeldung zur Einigung mit der Union. Dem Willy-Brandt-Haus wurden aber „heftige“ Reaktionen von der Basis vermeldet. Die Stimmung dort war sicher von Beginn an nicht berauschend, aber die Begleitmusik aus Düsseldorf hat die Lage verschlimmert. Es ist halt stets leichter, einen Baum hochzuklettern als herunter.

Die Mitgliederbeteiligung wird einer klugen Moderation bedürfen – mit vielen Veranstaltungen, in denen die Parteigranden für ihre Sache werben. Im Moment ist davon die Rede, es gebe Bewegung an der Basis, aber sicher noch keine Trendwende. Zumal in Nordrhein-Westfalen, wo vor dem Konvent bereits Regionalversammlungen stattfanden. Weil es bisher eben nur mündliche Absprachen gibt, muss Krafts wichtigstes Argument sein: Vertraut mir! Ihren persönlichen Wandel wird sie mit den vielen „Inhalten“ begründen, welche die Sozialdemokraten nun durchsetzen könnten. Viel steht auch für die beliebsteste deutsche Sozialdemokratin auf dem Spiel. Sollte sich die Basis am Ende doch gegen die Koalition entscheiden, wäre auch sie schwer beschädigt. Die Führungsspitze im Willy-Brandt-Haus wäre ohnehin erledigt. Soweit soll es nicht kommen: Längst haben in der Berliner SPD-Zentrale die Vorbereitungen für das Basisvotum begonnen. Nahles will vorschlagen, die Abstimmung am Ende von Koalitionsverhandlungen in den Geschäftsstellen der Ortsvereine abzuhalten. Dazu sollen alle 470000 Parteimitglieder angeschrieben werden. Eine Briefwahl soll nur auf Antrag möglich sein. Manchmal heißt Führung eben Steuerung. Über den Vorschlag soll der Parteivorstand, der am Sonntag morgen vor Beginn des Konvent tagt, diskutieren.

Mit Abstimmungsfragen ganz anderer Art wird sich Kraft dann in den mutmaßlich schwarz-roten Jahren kontinuierlich befassen müssen. Als Bundesrats-Koordinatorin der wird es ihr obliegen, die Grünen mit einzubinden, mit denen die Sozialdemokraten nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein gemeinsam regieren. Einen Draht wird sie auch nach Bayern aufnehmen müssen. Kraft bezeichnete die Episode mit Dobrindt vom Montagabend übrigens als „klärendes Gewitter“, das vorübergezogen sei. Die große Koalition, die sich nun am Berliner Himmel andeutet, wird künftig wohl aus zwei Regionen von gelegentlichen Unwettern bedroht: die eine entlang der Isar, die andere entlang des Rheins. In München sitzt ein CSU-Vorsitzender, der am Donnerstag daran erinnerte, dass er die Sozialdemokraten gut kenne, schließlich werde er gern „der letzte Sozi in Bayern“ genannt, ein Titel, der in der SPD bekanntlich als Bedrohung aufgefasst wird. Und in Düsseldorf sitzt eine Neben-SPD-Vorsitzende, die sich fest vorgenommen hat, nicht das Opfer einer großen Koalition in Berlin zu werden.