
Hydroxyethylstärke wird als Blut-Ersatz weltweit eingesetzt. Die Risiken unterschätzte man lange. Nun entscheidet die europäischeArzneimittelbehörde über das Mittel.
Hydroxyethylstärke, kurz als „Hes“ bezeichnet, wird weltweit täglich zehntausendfach im Operationssaal, von Notärzten und auf Intensivstationen eingesetzt, um in kritischen Situationen den Blutdruck zu stabilisieren – obwohl Patienten keinen Vorteil haben, wenn sie mit Hes behandelt werden. Salzlösungen sind ebenso effektiv, kosten weniger und haben weniger Nebenwirkungen. Hes wird aus Mais oder Kartoffelstärke hergestellt und wird deshalb – anders als die Stärke, die wir als Nahrungsmittel zu uns nehmen – bei Verabreichung in die Blutbahn vom Körper als Fremdmaterial wahrgenommen, das nur zu etwa siebzig Prozent über die Niere ausgeschieden wird, während der Rest im Gewebe gespeichert wird. Das führt zu Nebenwirkungen, die seit Jahrzehnten zwar bekannt, aber in ihrer klinischen Bedeutung weit unterschätzt wurden: Nierenversagen, Schädigungen anderer wichtiger Organe besonders nach hoher und mehrfacher Dosierung, und Juckreiz durch Speicherung in Nervenzellen. Hes beeinträchtigt auch das Gerinnungssystems und erhöht die Blutungsgefahr.
Nach aktuellen Meta-Analysen unabhängiger Studiengruppen zur Sicherheit dieser Substanz ist davon auszugehen, dass durch die Verwendung von Hes anstatt von Salzlösungen mehr als zwei von hundert Patienten ein akutes Nierenversagen davontragen und einer von hundert Patienten daran verstirbt. Die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde FDA hat aufgrund dieser Datenlage den Einsatz der Substanz bei Intensiv- und Sepsispatienten sowie bei Patienten in der Herzchirurgie komplett untersagt und die Verwendung bei anderen Patienten mit strengen Sicherheitsauflagen belegt. Die European Medical Agency (Ema) hat empfohlen, auf den Einsatz von Hes bis zu einer endgültigen Entscheidung dieser Behörde, die am morgigen Freitag zu erwarten ist, zu verzichten. Einige Länder, darunter England und Italien, haben daraufhin vorsorglich das Produkt vom Markt genommen. Der amerikanische Hersteller Baxter hat Hes von sich aus zurückgezogen.
Hersteller äußern Zweifel an Studien
Der Weltmarktführer Fresenius Kabi und andere Hersteller haben jedoch Widerspruch gegen die Entscheidung der Ema eingelegt. Fresenius beklagt, dass Hes durch eine Anti-Hes-Lobby als potentiell lebensgefährliches Medikament dargestellt wird und verbreitet in der Öffentlichkeit Zweifel an den Ergebnissen der klinischen Studien, die die Nebenwirkungen von Hes aufzeigten. Dies sind insbesondere drei höchstrangig im „New England Journal of Medicine“ (NEJM) publizierte große klinische Studien, die die behördlichen Schritte der Risiko-Nutzenbewertung auslösten. Die durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte VISEP- Studie des deutschen Kompetenznetzwerkes SepNet wurde von Fresenius wegen Verwendung eines angeblich veralteten Hes-Produkts als unethisch bezeichnet. Eine skandinavische Folgestudie aus dem Jahr 2012 zeigte mit dem neuesten, vermeintlich besseren Hes-Produkt in einer Gesamtdosierung, die deutlich unter der erlaubten Tageshöchstdosis lag, eine mit acht Prozent höhere Sterblichkeit nach neunzig Tagen als die VISEP Studie mit sieben Prozent. Akutes Nierenversagen kam in beiden Studien unter Hes häufiger vor.
Fresenius drohte dem dänischen Erstautor dieser Studie, Anders Perner, und dem „NEJM“ mit einer Schadenersatzklage in zweistelliger Millionenhöhe, weil aus der Überschrift des Artikels nicht eindeutig hervorging, dass es sich bei der untersuchten Substanz um das Produkt eines Konkurrenten handelt, das zwar molekular identisch ist, aber nicht aus Mais-, sondern aus Kartoffelstärke besteht. Ebenfalls 2012 wurde eine dritte, von Fresenius kofinanzierte und von einer unabhängigen australischen Studiengruppe durchgeführte Studie mit mehr als 7000 Patienten veröffentlicht. Auch in dieser Studie, bei der im Rahmen des gesamten Studienverlaufs lediglich ein Zehntel der erlaubten Tagesdosis des Fresenius-Produkts eingesetzt wurde, mussten bei Patienten in der Hes-Gruppe signifikant öfter Dialyseverfahren eingesetzt werden, sie benötigten häufiger Bluttransfusionen und litten häufiger an Juckreiz. Nach einem Bericht der „Financial Times“ vom 30. September 2013 zweifelt Fresenius auch diese Ergebnisse an und ist in einen Streit mit den Autoren dieser hoch angesehenen Studiengruppe eingetreten.
Eigene Studien der Hersteller belegen keinen Nutzen
Dabei ist bemerkenswert, dass es den Herstellern in den mehr als vierzig Jahren, in denen Hes auf dem Markt ist, für keine medizinische Indikation gelungen ist, eigene Studien vorzulegen, die die Überlegenheit von Hes gegenüber den alternativen Salzlösungen zeigen. Hes kam auf den Markt, ohne hinsichtlich seiner Sicherheit und Nützlichkeit adäquat überprüft worden zu sein. Denn diese, an sich für jedes Arzneimittel selbstverständliche Forderung gilt erst für neue Medikamente, die nach einer Änderung der Arzneimittelgesetzgebung in Folge des Conterganskandals auf den Markt kamen.
Allein in den vergangenen zehn Jahren wurden weltweit mehr als hundert Millionen Patienten mit Hes behandelt. Die Firma Fresenius wirbt damit, dass ihre jüngsten Hes-Produkte Voluven und Volulyte in mehr als achtzig Ländern bereits bei mehr als dreißig Millionen Patienten eingesetzt wurden. Wenn man davon ausgeht, dass die bisher vorliegenden Studienergebnisse für den Routinegebrauch von Hes repräsentativ sind, dürften allein in den vergangenen zehn Jahren mindestens eine Million Todesfälle und mehr als zwei Millionen Fälle von Nierenversagen durch HES verursacht worden sein.
Seit Bekanntwerden der Studien, die Nebenwirkungen nach HES bei intensivmedizinisch behandelten und bei Sepsis-Patienten zeigen, wird in Artikeln, deren Erstellung von Fresenius finanziell unterstützt wurde, behauptet, dass die Nebenwirkungen von Hes bei Trauma-Patienten oder Patienten, die operiert werden, nicht nachweisbar sind und dass es hier ausschließlich Studien gäbe, die ein günstiges Risiko-Nutzen-Profil von Hes belegen. Das entspricht nicht den Tatsachen. Eine aktuelle systematische Studienanalyse der Cochrane Collaboration kam zu dem Schluss, dass die derzeitige Datenlage dafür spricht, dass durch Hes das Risiko für Nierenversagen in allen Patientengruppen erhöht und eine sichere Dosis derzeit nicht festgelegt werden kann.
Priorität für die Patientensicherheit
Hes ist ein Arzneimittel mit zweifelsfrei belegten Risiken und ohne belegten Nutzen. Da es sichere und kostengünstigere Behandlungsalternativen gibt, ist zu fordern, HES erst dann wieder in der Klinik einzusetzen beziehungsweise arzneimittelrechtlich neu zuzulassen, wenn der Nachweis der Effektivität und Sicherheit nach den heute gültigen Kriterien für die Neuzulassung von Arzneimitteln mit den in diesen Verfahren geforderten Sicherheitsprüfungen zweifelsfrei bewiesen ist. Dies bedeutet zunächst, in geeigneten Labor- und Tierversuchen den Nachweis zu führen, dass Patienten in bestimmten Situationen von Hes profitieren könnten. In einem zweiten Schritt müsste diese Hypothese in Phase 2- und Phase 3-Studien bei Patienten überprüft werden. Bisherige Untersuchungen an Nierenzellkulturen und Schweinenieren bestätigen allerdings die nierentoxischen Wirkungen und die erhöhte Blutungsgefahr durch Hes. Es ist bei der derzeitigen Datenlage deshalb schwer vorstellbar, dass ohne eindeutig positive Daten aus Tierversuchen solche Studien durch Ethikkommissionen genehmigt werden. Es ist zu hoffen, dass die European Medical Agency bei ihrer anstehenden Entscheidung der Patientensicherheit Priorität einräumt.
Konrad Reinhart ist Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum Jena.
