Politik

Aus der Untat lernen

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Resozialisierung kann nur gelingen, wenn der Verurteilte Unrecht und Schuld seiner Tat einsieht.

Die Welt ist eine einzige Jurisprudenz“. Dieser vielzitierte Ausruf von Thomas Bernhard könnte auch speziell auf das Strafrecht gemünzt sein. Es ist überall präsent, als Ausdruck höchster moralischer Empörung oder undurchsichtiger Opportunität, als bürokratische Instanz oder Kampfmittel in Krieg und Frieden, getragen von legitimatorischem Selbstbewusstsein oder nur von politischen Stimmungen.

Gibt es wirklich keine festeren und verlässlicheren Orientierungen, einen Kernbestand gleichsam, auf den man verweisen kann, um die Spreu vom Weizen zu scheiden? Für alle Zeiten und überall sicher nicht. Dafür hat die epistemologische und politische Kritik an dem, was Natur- oder Vernunftrecht sein könnte, nichts übrig gelassen. Aber die Erfahrung lehrt, dass jede Epoche, so schwierig ihre zeitliche und örtliche Eingrenzung auch ist, Grundpositionen entfaltet, die einen gewissen Vorrang beanspruchen gegenüber allfälliger Instrumentalisierung des Strafrechts.

Für das westliche Europa der Gegenwart gehört zu diesen Positionen vor allem die Zusammenführung von „Tatschuld“ und „Resozialisierung“. Dabei tauchen Probleme auf, die eine breitere Aufmerksamkeit verdienen.

Unendlich ist die Komplexität der Delinquenz. Unendlich komplex müssten deshalb auch die staatlichen Reaktionen sein. Das aber ist Utopia. Reduzierung von Komplexität ist vielmehr die herrschende Parole. Die Schuld des Täters, also der persönliche Vorwurf seiner unrechten Tat, ist ein riesiges Mosaik- die Schuld des Täters im Kopf des Richters jedoch präjudiziert durch wenige Maximen und Lehrbuchweisheiten. Die Gründe für diese Auswahl bleiben dunkel, werden nicht reflektiert- gearbeitet wird nur mit geschichtlich gewachsenen, zum Teil lokalen Konventionen.

Das entscheidende Motiv für den Abschied von diesen falschen Abstraktionen gewinnt man mit der Hypothese, dass nicht nur die Einzelheiten des Verbrechens bedeutungsvoll sind für die Zielsetzung und Ausgestaltung der strafenden Reaktion, sondern diese Reaktion ihrerseits eine Funktion übernimmt bei der Fixierung der Merkmale des Verbrechens. Ist das richtig, eröffnen sich ganz neue Perspektiven für die Beweisaufnahme. Das passiert nicht von ungefähr. Blicken wir zurück.

Die Rechtsgesellschaften beginnen mit Erzählungen. Das Mannigfache bestimmt das Klima, abstrahierende Begriffe sind dieser frühen Welt fremd. Das geht so lange, bis Herrschaft und Prinzipien sich etablieren. In Mitteleuropa geschieht das unter dem Einfluss von Kirche und gelehrter Theologie in den ersten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends und erreicht in der Neuzeit seinen Höhepunkt mit den großen Systemen des Rechts und dieses Niveau anvisierenden Staaten. Dann entsteht – wohl auch nach dem Vorbild naturwissenschaftlich fundierter Technik – ein neuartiges Interesse an Exaktheit im Detail. Die Kriminologie bietet viele Differenzierungen – psychologisch, soziologisch, biologisch, ökonomisch – an und die Strafrechtswissenschaft raffinierte Verfeinerungen, etwa im Bereich von Handlung und Kausalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Versuch, Beteiligung mehrerer und Unterlassungen.

Völlig unberührt von dieser Entwicklung aber bleiben Theorie und Praxis der Strafzwecke: Vergeltung, Generalprävention (angedrohte oder vollstreckte) und Spezialprävention (Sicherung, Besserung, Abschreckung). Das sind die jahrhundertelang gleichbleibenden Schlagworte mit leichten Abwandlungen und Zeitverschiebungen (Resozialisierung ist ein etwas jüngerer Terminus), und dann allerdings – noch späteren Datums – die Unterscheidung zwischen positiver (normbestätigender) und negativer (abschreckender) Generalprävention, und ganz neu die Genugtuungsstrafe im Interesse des Opfers. Das Ganze eingehüllt in nebelhafte Wendungen wie Strafbedürfnis und Strafwürdigkeit. Spezieller wird es nicht, die Gerichte begnügen sich mit aus dem Alltagsleben geschöpften Bildern.

Was ist angesichts dieser Schieflage nun die richtige Frage? Das lehren uns die Metamorphosen der Resozialisierung, dieses besonders umstrittenen Strafzwecks. Lange hat man geglaubt, er sei mit einem Schuldstrafrecht nicht vereinbar. Das lag daran, dass man unter Resozialisierung eigentlich nur eine äußerliche Anpassung verstand. Wichtig war für die Bediensteten des Strafvollzugs, herauszufinden, welche Defizite beim Verurteilten bestanden, und die dann zu beseitigen. Mit der – vergangenen – Tatschuld hatte das nichts zu tun.

Inzwischen wird das jedoch anders gesehen. Resozialisierung kann nur gelingen, wenn der Verurteilte Unrecht und Schuld seiner Tat einsieht. Der gewissermaßen mechanistische Resozialisierungsbegriff hat Konzepten Platz gemacht, die sich ein akzeptables Sozialverhalten nur von jemandem versprechen, der weiß, was und warum er es tut.

Die Masse der für diesen Lernprozess zu mobilisierenden Kräfte ist unübersehbar, sowohl was die Tiefenstrukturen angeht wie die begleitenden, äußerlich fördernden Umstände. Der Richter, der in seinen Urteilsgründen den Vollzugsbehörden die erforderlichen Empfehlungen geben soll, muss sich also entsprechend gut informieren, das heißt forensisch: die nötigen Beweise erheben. Dass es dabei nur um Annäherungen gehen kann, ist kein Grund, sie zu unterlassen. Der Richter muss diejenigen Elemente der Tatschuld im Auge haben, mit denen die Verbindung hergestellt wird zu dem, was der Verurteilte lernen soll. Elemente, die man ohne weiteres zur Schuld rechnen könnte, die aber für den Lernprozess im Strafvollzug keine Rolle spielen, weil sie beispielsweise so intrinsisch sind, dass sie – unerachtet der Abkehr von bloßen Konditionierungsprogrammen – für den Resozialisierungszweck keine Bedeutung haben, muss der Richter auch bei der Zurechnung beiseitelassen.

Ein gutes Beispiel liefert die „schöne“ Literatur. Sie fixiert, wie nicht selten, das strafjuristische Problem früher und schärfer als Rechtswissenschaft und -praxis. In Theodore Dreisers „An American Tragedy“ gibt Clyde Griffiths am Ende den Entschluss auf, die Fabrikarbeiterin Roberta, die ein Kind von ihm erwartet, bei einer Bootsfahrt auf einem einsamen See zu ertränken – kurz bevor er zu der entscheidenden Handlung hätte ansetzen können, weil er es eben doch nicht übers Herz bringen kann. Er denkt in diesem Moment nicht mehr daran, dass der Tod Robertas ihm den Weg frei gemacht hätte für die Verbindung mit der glamourösen Millionärstochter Sondra Finchley. Clyde wird ganz starr bei diesem Vorgang, Roberta erschrickt darüber, geht auf ihn zu und fällt dabei ins Wasser. Sie kann nicht schwimmen, was Clyde wusste und ein Teil seines Plans war. Er rettet sie nicht, und sie ertrinkt. Er wird deshalb zum Tode verurteilt. Kurz vor der Hinrichtung fragt ihn der Geistliche, ob er in einem Winkel seines Herzens den Tod Robertas dann doch gewünscht habe. Wenn es so sei, dann sei er schuldig.

Moralisch ist das wohl die entscheidende Frage, juristisch aber hängt – nach deutschem Recht – die Strafbarkeit davon ab, ob Clyde aus vorangegangenem gefährdenden Tun eine Garantenstellung für das, was daraus folgt, trifft. Man kann diese Frage durchaus mit „Ja“ beantworten. Keinesfalls bedarf es für die Antwort jedoch des Rückgriffs auf das Motiv. Das Sozialisationsdefizit, das – für den Fall einer Verurteilung nicht zum Tode, sondern zu einer Freiheitsstrafe – in einem Resozialisierungsprozess hätte behoben werden müssen, bliebe beschränkt auf die falsche Einschätzung der Pflichten, die man durch Unterlassen der rettenden Handlung verletzt. Den Ehrgeiz, aus Clyde Griffiths einen besseren Menschen zu machen, der auf eitle gesellschaftliche Ansprüche verzichtet, dürften die Bediensteten des Strafvollzuges nicht entfalten. Aus dieser begrenzten Zielsetzung ergibt sich die Begrenzung der tatrelevanten Schuld.

Umgekehrt: Wenn für die Resozialisierung erforderlich ist, dass der Verurteilte Gemeinsinn an den Tag legt und die durch Neutralisationen seines Unrechts und seiner Schuld geprägte Einstellung überwindet, dann ist es wichtig, dass diese Neutralisation als Teil seiner Schuld erscheint, selbst wenn man dabei primär an Moral denken würde. Auch in diesem Fall muss der Richter sich die entsprechenden Informationen verschaffen.

Wieder hilft uns am besten die Literatur. Dieses Mal ist es Dostojewski, „Verbrechen und Strafe“. Raskolnikow neutralisiert den „Delikterfolg“ – Tötung der Pfandleiherin – durch deren soziale Abwertung. Sich von dieser Obsession zu befreien, und die natürliche Tötungshemmung wiederzugewinnen oder überhaupt erst zu erlernen sollte das Ziel seiner Resozialisierung sein und das entsprechende Defizit demgemäß zur Feststellung der Schuld gehören, auch wenn man vielleicht dazu neigen könnte, das neutralisierende Motiv für juristisch irrelevant zu erklären und in das Reich der Moral zu verweisen.

Was uns hier modellhaft über das Verhältnis von Tatschuld und Resozialisierung vor Augen tritt, ist nur ein kleiner Ausschnitt des Programms einer präventiv orientierten Zurechnung, zeigt aber pars pro toto, worauf es ankommt, wenn man die Strafzwecke ernst nimmt, das heißt zu ihren konkreten detailreichen Konsequenzen entwickelt. Eine Vielfalt von Gründen und Bewertungen, Prognosen und Kommunikationen wird dann relevant und nimmt der Staatsmaxime, Komplexität müsse reduziert werden, die Überzeugungskraft, verändert jedenfalls ganz entscheidend die Beweislast dieser Argumentation. Sie sinkt zu einem kümmerlichen, spätmachiavellistischen Arsenal zusammen, auf dem nicht bestehen kann, wer das Elend der Strafanstalten, euphemistisch Justizvollzugsanstalten genannt, zur Kenntnis nimmt und sich von denen, die dort arbeiten, die katastrophalen Mängellisten vorlegen lässt, die nicht nur einen generellen Personalmangel signalisieren, sondern auch, dass die Aufgaben, die jeder professionell mit den Umständen Vertraute sofort aufzählt, von den zentralen Stellen ignoriert werden, ganz zu schweigen von den verfassungswidrigen Zuständen, die mit dem Respekt vor der Menschenwürde und den Persönlichkeitsrechten nicht vereinbar sind – wie Duldung interner Gewaltverhältnisse, Nichtverhinderung von Selbstmorden, Benutzung von Häftlingen als V-Leute, die sich ihr Material häufig als agents provocateurs verschaffen.