
Der Zeitpunkt des Fortschrittsberichts verärgert Ankara – man werde sich erst nach dem islamischen Opferfest äußern. In Bosnien-Hercegovina herrscht Ratlosigkeit über den Fortgang der Annäherung an die EU.
Der türkische EU-Minister und Chefunterhändler für die Beitrittsverhandlungen, Egemen Bagis, hat sich am Mittwoch verärgert darüber gezeigt, dass der jüngste Fortschrittsbericht zur Türkei während des islamischen Opferfestes vorgelegt worden ist. Bagis ging auf Einzelheiten des Berichts, den die Kommission für alle Beitrittskandidaten am gleichen Tag vorlegte, nicht ein. Er beschwerte sich aber darüber, dass die EU trotz aller Einsprüche der türkischen Regierung an dem Veröffentlichungstermin festgehalten habe.
Aus dem ebenfalls mehrheitlich muslimischen Albanien (siehe Kasten) hatte es keinen Protest gegen das Datum der Veröffentlichung gegeben. Laut Bagis sei die Wahl des Zeitpunkts jedoch so, als ob man den Europäern einen wichtigen Bericht zu den Weihnachtsfeiertagen präsentiere. Bagis kündigte an, er werde sich erst nach Ende des Opferfestes zum Inhalt des Berichts äußern. Auch von anderen Mitgliedern der Regierung des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan lagen Reaktionen auf den Bericht am Mittwochabend zunächst nicht vor.
„Sehr begrenzten Fortschritt“ in Bosnien-Hercegovina
Ratlosigkeit über den Fortgang der Annäherung an die EU herrscht unterdessen in Bosnien-Hercegovina, nachdem die Kommission dem Balkanstaat in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht bestenfalls „sehr begrenzten Fortschritt“ bei der Erfüllung der politischen Kriterien für einen Beitritt zugeschrieben hatte. Vor allem, weil eine Reform der Verfassung und des Wahlrechts ausbleibt, soll nach einer Empfehlung der Kommission nicht nur Bosniens bereits zu Ende verhandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU nicht in Kraft treten, sondern dem Land auch eine Bewerbung um den Beginn von Beitrittsverhandlungen verwehrt bleiben.
Dies geht zurück auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg vom Dezember 2009, das zwei bosnischen Staatsbürgern recht gab, die gegen ihr Land geklagt hatten. Der bosnische Jude Jakob Finci und der bosnische Roma Dervo Sejdić hatten wegen der Verletzung ihres passiven Wahlrechts Klage eingereicht.
Seit Jahren keine Einigung auf eine Verfassungs- und Wahlrechtsreform
Die 1995 im amerikanischen Dayton ausgehandelte bosnische Nachkriegsordnung erlaubt es nur Bewerbern, die sich entweder als Serbe oder als Kroate oder als Bosniake deklarieren, für das Amt des Staatspräsidenten zu kandidieren. Roma, Juden oder Angehörige anderer Minderheiten können sich nur dann um einen der drei Posten im kollektiven Staatspräsidium bewerben, wenn sie der Wahlkommission bei ihrer Registrierung als Kandidat eine dieser drei Identitäten als die ihre angeben.
Beharren sie darauf, ausschließlich Jude oder Roma zu sein oder einer anderen Minderheit anzugehören, bleibt ihnen die Kandidatur für das höchste Staatsamt in Bosnien verwehrt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die EU haben Bosnien eine Änderung der Verfassung und des Wahlrechts auferlegt, um diesen Missstand abzuschaffen. Die bosnischen Politiker können sich jedoch seit Jahren nicht auf eine Reform einigen. Zuletzt war ein Krisentreffen bosnischer Spitzenpolitiker Anfang Oktober gescheitert.
Europa habe als „Mitverfasser“ ebenfalls Verantwortung
Auch Vermittlungsversuche ausländischer Politiker, unter anderem von Bundeskanzlerin Angela Merkel, der damaligen amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton sowie von EU-Kommissionschef José Manuel Barroso scheiterten, obwohl Brüssel den Druck schrittweise erhöht hat. Bereits im Dezember 2010 erklärte die EU eine Verfassungsänderung im Sinne des Straßburger Urteils zur Bedingung für eine „glaubwürdige Bewerbung“ Bosniens um eine EU-Mitgliedschaft.
Diese Haltung bekräftigte die Kommission am Mittwoch nach der Veröffentlichung des jüngsten Fortschrittsberichts. Trotz intensiver Vermittlungen der EU „konnten die politischen Repräsentanten sich nicht auf eine Lösung zur Implementierung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Sejdić-Finci einigen“, heißt es in einer Stellungnahme der Kommission.
Eine Einigung bleibe jedoch der Schlüssel für das Inkrafttreten des Assoziierungsabkommens sowie für eine „glaubwürdige Bewerbung“ um die EU-Mitgliedschaft. Die Grünen-Abgeordnete und Bosnien-Kennerin Marieluise Beck kritisierte die politischen Führer in Bosnien, die sich weiterhin dem Rechtsspruch des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs verweigerten und „in unverantwortlicher Weise“ nun sogar die Kürzung von EU-Unterstützungsgeldern in Kauf nähmen, statt sich zu einigen.
Sie erinnerte allerdings daran, dass Europa als „Mitverfasser“ des 1995 zur Beendigung des Krieges ausgehandelten Daytoner Abkommens ebenfalls eine Verantwortung für die Überwindung der „undemokratischen und diskriminierenden“ bosnischen Verfassung trage.
