
Die endgültige Ausrottung der Kinderlähmung ist zum Greifen nahe. Doch ohne neue, große Anstrengungen am Horn von Afrika und in Israel wird es kaum gelingen.
Dank effektiver Impfstoffe gehört die Kinderlähmung (Polio) zu den wenigen Erkrankungen, die weltweit ausgerottet werden können. In Deutschland ist seit 1990 kein Fall von einheimischer Polio mehr aufgetreten, viele Menschen hierzulande haben die Erkrankung fast vergessen. Der Welt-Poliotag, der jedes Jahr am 28. Oktober begangen wird, soll an die Schrecken, aber auch an die enormen Fortschritte bei der Ausrottung dieser Erkrankung erinnern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gedenkt damit des Entwicklers des ersten Polioimpfstoffes, Dr. Jonas Salk, und macht die Verpflichtung deutlich, sich in diesem weltweit bedeutenden Gesundheitsprojekt weiterhin zu engagieren, um Polio für immer zu besiegen.
Seit Beginn der globalen Initiative im Jahr 1988 ist die Zahl der Erkrankungen weltweit von damals rund 350 000 auf bisher 285 im Jahr 2013 gesunken. Die Zahl der Endemieländer ging zurück, von ehemals 125 auf derzeit noch drei. In Nigeria, Afghanistan und Pakistan konnte die Virusübertagung bisher nicht gestoppt werden. Im Bürgerkriegsland Syrien hat man nach dem starken Rückgang der Durchimpungsquote zum ersten mal wieder Verdachtsfälle registriert.
Die enorme Verringerung der Fallzahlen, das völlige Verschwinden des Poliowildvirus Typ 2 und der drastische Rückgang der Infektionen durch Poliowildvirus Typ 3 in den vergangenen elf Monaten zeigen, dass die zur Verfügung stehenden Instrumente – konsequente Impfungen und gute epidemiologische Überwachung – wirksam sind. Dass Polio damit selbst unter den schwierigsten Bedingungen ausgerottet werden kann, zeigt das Beispiel Indien: Das Land mit den einst meisten Erkrankungsfällen ist inzwischen seit fast drei Jahren poliofrei!
Trotz enormer Fortschritte kommt es immer wieder zu neuen Herausforderungen: Problematisch sind vor allem die Re-Importe von Poliowildviren aus den bestehenden Endemiegebieten in bereits poliofreie Gebiete. Auch die seit über elf Jahren als poliofrei zertifizierte WHO-Region Europa ist nicht vor einer Wiedereinschleppung von Poliowildviren geschützt. Der Polioausbruch in Tadschikistan im Jahr 2010, wo es zu 460 bestätigten Erkrankungsfällen und einer Weiterverbreitung der Viren bis nach Russland kam, zeigt dies eindrücklich. Auch in diesem Jahr gibt es bedenkliche Entwicklungen. Seit Februar fanden sich in Israel immer wieder Poliowildviren Typ 1 in Abwasserproben. Die WHO schätzt daher das Risiko der internationalen Weiterverbreitung der Polioviren derzeit als hoch ein. Ein Nachweis der Viren gelang zuerst im Süden Israels, später in anderen Landesteilen, darunter Jerusalem sowie im Westjordanland und im Gazastreifen, insgesamt in etwa hundert Umweltproben. Molekulare Analysen ergaben, dass diese Viren, die 2012 auch in Ägypten im Abwasser auftraten, aus Pakistan stammen.
Aufgrund ausgezeichneter globaler Überwachungssysteme und wegen der hohen Durchimpfungsraten in Israel traten jedoch bisher keine Erkrankungen bei Menschen auf. Die israelischen Gesundheitsbehörden haben schnell und intensiv reagiert- sie starteten landesweite Impfaktionen mit einem oralen bivalenten Lebendimpfstoff (OPV). Routinemäßig wird in Israel seit zwanzig Jahren der inaktivierte Impfstoff (IPV) verwendet, der zwar eine Erkrankung sicher verhindert, wegen der fehlenden Darmimmunität die Weiterverbreitung der Viren aber nicht ausschließt.
Auf der 66. Weltgesundheitsversammlung 2013 wurde in Genf ein neuer Strategieplan für die Endphase der Polioeradikation 2013 bis 2018 gebilligt. Er beinhaltet die Erhöhung der globalen Überwachung, die Stärkung von Routineimpfungen und die Verbesserung der Infrastruktur in schwer zu erreichenden Gebieten. Nachdem das Polio-Eradikationsziel mehrfach verschoben werden musste, soll nun mit dem zweifellos ehrgeizigen Sechsjahresplan die Übertragung von Poliowildviren bis Ende 2014 endgültig gestoppt werden.
Die Chancen, dieses Ziel zu erreichen, sind gut: die drei verbleibenden Endemieländer setzten nationale Notfallpläne zur weiteren Verbesserung der Impfkampagnen um, die zu den historisch niedrigsten Raten von Neuerkrankungen im vergangenen Jahr geführt haben. Dennoch werden in Pakistan die Fortschritte im Kampf gegen Polio immer wieder gefährdet, weil in einigen Landesteilen Führer der „Taliban“ den Menschen untersagen, ihre Kinder impfen zu lassen. Besonders tragisch sind die Angriffe auf WHO-Mitarbeiter und die Ermordung von einheimischen Impfhelfern wie abermals vor wenigen Tagen im Nordwesten Pakistans. Die Impfaktionen mussten daher teilweise zurückgefahren werden.
Eine weitere Herausforderung der Initiative ist der aktuelle Polioausbruch am Horn von Afrika – einem Gebiet, das bereits poliofrei war. Die bisher 191 Fälle entsprechen mehr als zwei Dritteln der in diesem Jahr insgesamt gemeldeten Fälle. Nachdem Mitte April in der somalischen Hauptstadt Mogadishu ein Kind an Kinderlähmung erkrankt war, breitete sich die Krankheit im bürgerkriegsgeplagten Land weiter aus.
Den letzten Poliofall hatte es in Somalia im Jahr 2007 gegeben, doch seit 2009 wurden geplante Impfaktionen verhindert. Damit entstand bei den Kleinkindern eine Impflücke, und das aus Nigeria stammende Virus konnte sich verbreiten. Dies hat bislang zu 170 Erkrankungen geführt. Zwar sind inzwischen mehrere Millionen Kinder geimpft worden, Hunderttausende, vor allem nicht sesshafte Bevölkerungsgruppen, sind aber nach wie vor nicht erreichbar, weil sie in einem der Gebiete leben, die von der radikalislamischen Al-Schabab Miliz kontrolliert werden.
Auch in einem Flüchtlingslager in Kenia erkrankten 14 Personen an Polio. Vier weitere Fälle sind aus Äthiopien und drei aus dem Südsudan gemeldet worden. Bei einer Infektion mit Polioviren entwickelt höchstens jeder Hunderste die typischen klinischen Poliosymptome, alle Infizierten können jedoch Virusausscheider sein. Nur durch hohe Impfraten lässt sich daher die Übertragung von Mensch zu Mensch unterbrechen.
Die Überwachung der Poliofreiheit in Deutschland hat für das Robert Koch-Institut eine hohe Priorität. Hier sind sowohl die Geschäftsstellen der Nationalen Kommission für die Polioeradikation in Deutschland und der Ständigen Impfkommission als auch das Nationale Referenzzentrum für Poliomyelitis und Enteroviren angesiedelt. Die Aufrechterhaltung hoher Durchimpfungsraten der gesamten Bevölkerung sowie eines verlässlichen und empfindlichen Überwachungssystems zur schnellen Erkennung importierter Polioviren stehen dabei im Vordergrund.
Polio endgültig auszurotten ist der alles entscheidende Schritt, um alle Kinder vor dieser impfpräventablen Krankheit zu schützen. Dies gelingt nur mit anhaltender politischer Unterstützung, bis Polio endgültig weltweit ausgerottet ist. Seit 1985 ist Deutschland als Geberland aktiv in die Polio-Eradikationskampagne eingebunden, auch in diesem Jahr wurden weitere 100 Millionen Euro dafür aufgewendet – zu unser aller Nutzen.
Sabine Diedrich leitet das Nationale Referenzzentrum für Poliomyelitis und Enteroviren. Reinhard Burger ist Mikrobiologe und Präsident des Robert Koch-Instituts in Berlin.
