Politik

Die Grammatik der Macht

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Die Bundestagswahl war die erste Belastungsprobe für das neue Wahlrecht. Zudem ist Fragloses fragwürdig geworden.

Das Wahlrecht ist das Regelwerk, nach dem sich am Wahltag der politische Wille des Volkes formt und in Parlamentssitze übersetzt wird. Es ist die Grammatik der Macht. In der Berliner Republik hat der Gesetzgeber das im Kern seit 1956 stabile Regelwerk erheblich verändert – nicht so sehr aus freien Stücken als vielmehr aufgrund von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts: Das Sitzzuteilungsverfahren, das negative Stimmgewicht, das Wahlrecht von Auslandsdeutschen sind die Stichworte.

Die Wahl zum achtzehnten Deutschen Bundestag war deshalb auch die Belastungsprobe für das zuletzt im Mai dieses Jahres geänderte Bundeswahlgesetz. Es hat diese Probe bestanden, auch wenn die erreichte Komplexität des Wahlrechts zusätzliches Vertrauen in die Rechenkünste der Wahlorgane einfordert. Immerhin musste sich der Gesetzgeber der Hilfe von Mathematikern und der Computerkapazitäten des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik versichern, um einen Algorithmus für den Gestaltungsraum zu entwickeln, den Karlsruhes normative Schraubzwinge faktisch noch gelassen hatte.

Schon im Juli hatte das Bundesverfassungsgericht sich mit der Nichtzulassung von politischen Vereinigungen zur Wahl befasst. Der Gesetzgeber, durch die Karlsruher Interventionen teilweise missgestimmt, hatte dem Gericht in einer geradezu dialektischen Volte noch mehr Entscheidungskompetenz zugewiesen, in diesem Fall den Rechtsschutz vor der Wahl gegen die abgelehnte Anerkennung als Partei für die Bundestagswahl. Auch wenn Karlsruhe nunmehr erstinstanzliches Bundeswahlgericht ist, zeigt der Erfolg einer der insgesamt zwölf Nichtanerkennungsbeschwerden, dass es gegen die zentrale Entscheidung über die Parteianerkennung vor der Wahl einen effektiven Rechtsschutz geben muss.

Nicht bestätigt haben sich die Szenarien eines Bundestages von bis zu 800 Abgeordneten, mit denen das überarbeitete Wahlrecht kritisiert worden war. Allerdings zeigt der Vollausgleich der vier Überhangmandate durch weitere 28 Mandate, dass der Hebel relativ groß ist. Erst zwei bis drei Wochen vor der Wahl schien die Öffentlichkeit wahrzunehmen, dass Überhangmandate ausgeglichen werden. Die vertraute Mechanik der „Zweitstimmenkampagne“ ist außer Kraft gesetzt, weil die taktische „Stimmenleihe“ zugunsten kleiner Parteien gegenüber Erststimmenparteien nicht mehr ergebnisneutral ist.

Bestätigt hat die Wahl einmal mehr, dass noch so gelehrte Voraussagen und verfestigte Meinungen über künftiges Wählerverhalten nicht die Grundlage für die Auslegung und Gestaltung des Wahlrechts sein können. Der noch im zweiten Verfassungsgerichtsverfahren zum negativen Stimmgewicht behauptete Trend einer stetig schwindenden Bindungskraft der Volksparteien, hat sich – wie auch in den Landtagswahlen in Bayern und Hessen – nicht bestätigt. Die Zahl der Überhangmandate ist deutlich zurückgegangen, weil die Wahlkreismandate durch entsprechende Zweitstimmen unterlegt sind.

Ein Beispiel, dass der Wahltag Fragloses fragwürdig machen kann, ist hingegen die Sperrklausel. Das Bundesverfassungsgericht hatte noch 2011 in seinem Urteil zur Verfassungswidrigkeit der Fünfprozentklausel bei den Europawahlen die entsprechende Regelung für Bundestagswahlen ausdrücklich zweifelsfrei gestellt. Nun zeigt sich nach dem Ergebnis der Bundestagswahl, dass 14 Prozent aller Zweitstimmen, die insgesamt auf nur fünf Parteien entfielen, bei der Sitzzuteilung nicht berücksichtigt wurden. Die beiden größten Parteien davon, die FDP und die AfD, bringen es zusammen auf 4,135 Millionen. Zweitstimmen.

Die Bundestagswahl führt uns vor Augen, dass über die Fünfprozentklausel bei einer Kumulation nicht berücksichtigter Zweitstimmen wegen des Gebots der Gleichheit der Wahl neu nachgedacht werden muss. Denn die bisherige Rechtfertigung ihrer Verfassungsmäßigkeit beruht auf dem Vorverständnis einer bestimmten Parteienlandschaft. Der Integrationsakt der Verhältniswahl kann – auf Dauer – nur gelingen, wenn die Zahl der nicht parlamentarisch vertretenen Bürger quantitativ gering ist und deren politischer Wille diffus bleibt. Dass die Sperrklausel in unerwarteter Weise gegriffen hat, rechtfertigt es aber nicht, das geltende Quorum sogleich für verfassungswidrig zu erklären.

In das kollektive Bewusstsein des politischen Raums ist schließlich abermals das Thema der Wahlprognosen getreten. Wahlprognosen sind im Zusammenwirken mit dem ungebrochenen Trend zur Briefwahl nicht mehr allein eine Frage der politischen Kultur. Sie sind ein verfassungsrechtliches Problem geworden.

Sicherlich, die „Sonntagsfrage“ ist fester Bestandteil der medialen Berichterstattung und ist nicht zuletzt wichtiger Verstärker der um Responsivität bemühten Politiker und Parteien. Umfragen sollen nur die Wirklichkeit wiedergeben, den Willensentschluss der Bürger fördern, ohne selbst Meinung zu machen. Die wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Unternehmen und die dramaturgischen Interessen ihrer Auftraggeber treten demgegenüber zurück. Sogar ein Gericht hat im zurückliegenden Wahlkampf festgestellt, dass die AfD nicht behaupten durfte, sie sei von den Umfrageinstituten fehlerhaft demoskopiert worden.

Aber dennoch war auch vor dieser Wahl wieder ein Unbehagen über das Umfragewesen zu hören. Der Gesetzgeber hat bereits 1979, mit Respekt vor der Leistungsfähigkeit empirischer Meinungsforschung, unzulässige Wahlbeeinflussung am Wahltag verboten. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten gehen bislang noch einen Schritt weiter und verzichten auf die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen nahe am Wahltag. Einige europäische Staaten untersagen die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen wenigstens eine Woche vor der Wahl. Damit wird eingestanden, dass Umfragen das Wählerverhalten beeinflussen können – jeder Wähler soll am Wahltag seine Entscheidung treffen ohne (vermeintliche) Kenntnis über das Wahlverhalten der anderen. Doch was geschieht, wenn der Wahltag zum Wahlmonat wird?

Der Anteil der Briefwähler betrug bei dieser Wahl etwa ein Viertel der Wähler. Mit anderen Worten, rund elf Millionen Wähler beantragten Briefwahlunterlagen und konnten etwa vier Wochen vor dem Wahltag ihre Stimmen abgeben. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar noch im Juli in einem Verfahren zur Bundestagswahl 2009 bestätigt, dass die Briefwahl verfassungsmäßig sei, weil eine „umfassende Wahlbeteiligung“ angestrebt und dadurch dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl entsprochen werde.

Der Aufmerksamkeit bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Briefwahl bedarf in Zukunft aber weniger die Integrität der Wahl, sondern der Sinn und Zweck der unmittelbaren Wahl. Die Wahl ist ein Verfahren, um den Volkswillen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu ermitteln. Dieser Integrationsakt ist der Legitimationspunkt für politische Herrschaft, dem im modernen Verfassungsstaat eine sich stetig verdichtende Kommunikation der Bürger – der Wahlkampf – voraus geht. Korrekte Meinungsumfragen und Wahlprognosen erfüllen in diesem Prozess durchaus eine wichtige Funktion. Denn sie ermöglichen dem Bürger eine nicht völlig beliebige Vergewisserung darüber, in welchem Kontext die eigene politische Position steht und ob diese sich in der parlamentarischen Demokratie wird durchsetzen können. Wenngleich solche Umfragen stets nur die Konstruktion politischer Wirklichkeit sind, unterliegen alle Wähler grundsätzlich im gleichen Maße deren Irrtumsanfälligkeit. Sie endet am Wahltag. Es sei denn, der Briefwähler entzieht sich der kollektiven Kommunikation.

Am Wahlabend erläuterte ein Spin-Doktor in der ARD, dass eine Partei voraussichtlich nicht in den Hochrechnungen zulegen werde, weil allein noch die Briefwählerstimmen auszuzählen seien, diese Partei jedoch erst in den letzten Tagen vor der Bundestagswahl einen Sprung nach oben gemacht habe. Aus welchen tatsächlichen Gründen auch immer dieser Sprung nach oben erfolgte, die Briefwähler konnten ihn nicht mitmachen oder bewusst unterlassen. Was, wenn die Gründe Texte und Bilder von Kandidaten in Zeitschriften, Interviewaussagen, neu enthüllte Skandale, politische Ereignisse in Europa oder die Ergebnisse von Landtagswahlen sind?

Es ist deshalb erwägenswert, ob diese Frage an das Wahlrecht in dem Sinn zu beantworten ist, dass der Wahlzeitraum für Briefwähler auf wenigstens zwei Wochen verkürzt und zugleich eine Veröffentlichung von Wahlprognosen in eben diesen zwei Wochen vor dem Wahltag untersagt wird.