Essen & Trinken

Patisseurin mit Doktortitel: Spritztüte statt Mikroskop

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Verfeinern: Anna Reckmann an der Spritztüte in Frankfurt-Griesheim

Backen ist Physik, backen ist Chemie. Anna Reckmann war Chemikerin und hat ein Labor geleitet. Heute ist sie Patissière. Und erforscht in ihrer eigenen Firma die Möglichkeiten, unterschiedliche Aromen auf kleinem Platz zu kombinieren.

Das ist die Geschichte einer Umsteigerin. Einer jungen Chemikerin mit Doktortitel, die eine leitende Position bei einem Weltkonzern aufgegeben hat. Um nach Paris zu gehen und sich ihrer Leidenschaft zu widmen: süßen Kleinigkeiten mit Zutaten wie Matcha und schwarzem Sesam oder Haselnuss und gegrilltem Parmesan, die schon einmal zu Liebe auf den ersten Biss führen. Mit kunsthandwerklichem Rüstzeug und einem Zertifikat ausgestattet, hat sich die Mittdreißigerin dann von der Seine verabschiedet, sie ist zurück in ihrer hessischen Heimat. Hier steht ihre Produktionsstätte an einem Ort, der mit ihren Kreationen kaum stärker kontrastieren könnte.

Wer Anna Reckmann, kurzer brauner Bob, herzliches Lächeln, besuchen will, muss sich in den alten Dunstkreis des Industrieparks im Frankfurter Stadtteil Griesheim begeben, der zum Glück schon lange keinen Dunst mehr verströmt. Die Patissière hat ihre Confiserie-Manufaktur in einem Haus an der Linkstraße eingerichtet. Das ist eher eine Gasse als eine Straße mitten im Herzen Griesheims. Wer mit dem Auto anreist, benutzt am besten sein Navigationsgerät. „Das war nicht von vorneherein so geplant“, sagt Reckmann mit Blick auf den Standort. Viel Laufkundschaft gibt es dort nicht, obwohl Kleingewerbe in der Nachbarschaft zu finden ist. „Die Räume haben sich so ergeben“, sagt sie.

Süße Vergangenheit

Die Lage eignet sich trotz ihrer Randständigkeit ziemlich gut für das Geschäft der Gründerin. Immerhin hatte dort vor vielen Jahren eine deutsche Bäckerei und Konditorei ihr Domizil, bevor ein türkischer Kollege dort seinen Betrieb einrichtete und Baklava herstellte, das traditionelle orientalische Gebäck mit Nüssen oder Pistazien und Honig. Süßes hat der Ort mithin seit einer halben Ewigkeit schon gesehen. Dass heißt aber nicht, dass Reckmann auf den Hinterlassenschaften der Vorgänger aufbauen konnte. Vielmehr hat sie die Inneneinrichtung komplett neu angeschafft, hat auch Wände eingezogen. So sieht der Gast viel blitzblanken Edelstahl auf einem Boden stehend, der schon länger dort liegt. Auch das ergibt einen Kontrast.

Das wiederum passt zum Lebenslauf von Anna Reckmann. Als Tochter des ehemaligen Merck-Topmanagers Bernd Reckmann ist sie zunächst beruflich in die Fußstapfen des Vater getreten. Sie hat in Marburg studiert, ist in Köln promoviert worden und hat bei der BASF am Stammsitz in Ludwigshafen als Leiterin eines Forschungslabors gearbeitet. Bei dem Chemieriesen hat sie sich zwei Jahre lang mit Verkapselungs-Methoden beschäftigt – dann war Schluss. Die Unzufriedenheit nahm überhand, wie der Vater es ausdrückt. „Ich habe mir gesagt: Es wird Zeit, dem inneren Drang zu folgen und das Fach zu wechseln“, so formuliert es die Tochter. „Ich habe das schon immer nebenbei gemacht“, sagt sie auch und meint backen und kochen, gerne auch für Freunde und mit tagelangen Vorbereitungen.

Mit Diplôme de Pâtisserie

Ein Jahr lang ging Anna Reckmann in die Patisserie-Lehre, eine Zeit, die sie als „intensiv“ erlebt hat. Paris und die Vorliebe der Pariser etwa für Macarons („Die gibt es da an vielen Ecken“) und die Wertschätzung der Franzosen für gutes Essen an sich kannte sie schon aus der Studienzeit. Als Abschluss machte sie das Diplôme de Pâtisserie und war danach das, was Handwerker hierzulande als Gesellin bezeichnen. Um ihr eigenes Geschäft leiten zu dürfen, musste sie in Deutschland eine Prüfung dranhängen, mit Lebensmittelkunde, Hygiene und so manch anderem, das wichtig ist in ihrem Metier.

Seit April vergangenen Jahres tüftelt Reckmann im Arbeiterstadtteil Griesheim ihre Leckereien aus. Eine festangestellte Konditorin und drei Aushilfskräfte sind an ihrer Seite. Dass ihr Geschäft noch in der Aufbauphase ist, räumt sie ohne Umschweife ein. Doch was heißt schon Aufbauphase? Mit ihren Kreationen muss sie sich nicht verstecken. Ohne an dieser Stelle irgendwelche Vergleiche anstellen zu wollen: Reckmannsche Macarons mit einer Füllung aus Lakritz und Maracuja können auch Leute begeistern, die mit dem Süßholz-Extrakt sonst ausdrücklich nichts am Hut haben. Die Zutaten erweisen sich bei geschlossenen Augen und stillem Genuss als gut ausbalanciert, genauso ist es bei einem Macaron mit Birne-Ingwer und rotem Pfeffer. Oder der Makrone französischer Art und mit Grüner Soße.

Nicht die 123. Nougat-Praline

Auch mit ihren Pralinien bewegt sich Reckmann abseits ausgetretener Pfade. Die 123. Nougat-Praline oder eine mit Marzipan und Walnuss drauf, so etwas ist nicht ihre Sache. Dann würde sie sich wohl auch nicht von der auf diesem Feld nicht gerade kleinen Konkurrenz abheben. Da mischt sie lieber Sesam mit Caramell und Sojasauce für die Füllung ihrer Pralinen.

An einer Stelle treffen sich ihr alter und ihrer neuer Beruf, das wird in ihrem Credo deutlich: „Die Patisserie ähnelt der Alchemie: Es ist die Kunst, Stoffe zu etwas Neuem zusammenzuführen und in etwas Wunderbares zu verwandeln.“ Um Missverständnissen vorzubeugen: Anna Reckmann verwendet nach eigenen Angaben nur natürliche Zutaten, das gelte auch für die Farbstoffe. Manches stamme sogar aus dem eigenen Anbau, wie sie hervorhebt.

Ideen für neue süße Kleinigkeiten, die im Zweifel gar nicht süß sind, kommen Anna Reckmann bei allen möglichen Gelegenheiten: „Wenn ich durch die Natur gehe zum Beispiel oder beim Autofahren. Ich sehe in vielen Situationen etwas und denke: Daraus könnte ich was machen.“ Damit ihre frischen Gedanken nicht verlorengehen, führt sie ein Ideen- und Skizzenbuch. Wer das aufschlägt, sieht: Diese Frau kann nicht nur Macarons machen, sie kann auch zeichnen.