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Brodeln im Pazifik

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Selbst die wachsende wirtschaftliche Integration kann die Zuspitzung von Territorialkonflikten in Asien nicht verhindern. Manches erinnert an die Lage vor dem Ersten Weltkrieg in Europa. Bisher leidet der Handel noch kaum darunter.

1914 war ein schlimmes Jahr. Hoffentlich wird nicht 2014 auch ein schlimmes Jahr. Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg als Folge einer komplizierten Gemengelage aus bewussten und unbewussten Fehlentscheidungen. Der britische Premierminister David Lloyd George sagte anschließend, Europa sei in den Krieg „hineingeschlittert“. Dem widersprachen spätere Historiker mit guten Quellenbelegen dafür, dass die Deutschen die Hauptverantwortung für den Waffengang getragen hätten.

Die Motivation freilich blieb umstritten. Erst hieß es nach einer Interpretation, das Kaiserreich wollte gewaltsam seine frisch gewonnene Weltstellung festigen – heute würde man sagen: als Supermacht. Anschließend kam in der Geschichtswissenschaft die These auf, die alten Eliten, besonders das Militär, hätten den Krieg vom Zaun gebrochen, um ihrem Bedeutungsverlust in der neuen bürgerlich-zivilen Ordnung entgegenzutreten. Dies sei selbst um den Preis geschehen, sich selbst und alle anderen in den Untergang zu stürzen.

Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie hält Analogien bereit. Oder, wie Mark Twain einmal schrieb: Geschichte reimt sich. Immer eindringlicher warnen derzeit Fachleute vor einem Krieg im Fernen Osten, wobei sich mancher Beobachter angesichts der vorgeblich ungewollten Eskalation an den Sommer des Jahres 1914 erinnert fühlt. Vordergründig geht es um einen Territorialstreit im Ostchinesischen Meer, wo Peking und Tokio eine unbewohnte Inselgruppe namens Senkaku oder Diaoyu beanspruchen, die als reich an Fischen und Rohstoffen gilt. Der japanische Staat hat einige der Eilande privaten Eigentümern abgekauft, also nationalisiert und somit nach chinesischer Lesart den Comment gebrochen, die staatliche Zugehörigkeit bis zur endgültigen Klärung in der Schwebe zu halten. Deshalb mobilisierte Peking zunächst die Straße mit Massenprotesten und Boykotten gegen Japan, später aber auch die Diplomatie und sogar das Militär: Vor zwei Wochen schlug China die Inseln einer neu geschaffenen Luftsicherheitszone mit Meldepflicht zu und drohte damit, deren Einhaltung notfalls mit Waffengewalt durchzusetzen.

Wie das Deutsche Reich zu schnell zu mächtig geworden

Japaner und Amerikaner flogen dennoch durch den Luftraum, ohne sich anzumelden, sogar mit Militärflugzeugen. Auch Südkorea protestierte gegen den chinesischen Vorstoß. Zugleich verschärfte sich die Lage anderswo im Pazifik, und zwar im Südchinesischen Meer. Der einzige Flugzeugträger der Chinesen stieß in diese Gewässer vor, wo das Land mit Vietnam, den Philippinen und anderen ebenfalls wegen einiger Inseln, Riffe und Felsen über Kreuz liegt.

Der Vergleich zum Vorabend des Ersten Weltkriegs ist historisch kaum haltbar, und doch reizen die Parallelen. China und Japan haben alte Rechnungen offen, so wie seinerzeit Deutschland und Frankreich nach dem Krieg von 1870/71. Auch die Bündnisverflechtungen von damals sind da: Die Vereinigten Staaten von Amerika als Großmacht etwa ist mit Japan, Korea und Taiwan alliiert – und damit gewissermaßen gegen China und gegen Nordkorea.

Bemerkenswert ist überdies, dass die Volksrepublik China in ähnlicher Weise wie das wilhelminische Deutschland aus Sicht vieler Beobachter zu schnell zu mächtig geworden ist. In einer nicht einmal 40 Jahre dauernden „Gründerzeit“ hat dank eines beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwungs ihr Gewicht derart zugenommen, dass sie ihren Platz in der Welt nicht finden kann, ohne anderen auf die Füße zu treten. Sie wittert überall Neid und Missgunst und fühlt sich bedroht, ja eingekreist von Japan und den Vereinigten Staaten. Ähnlich schnell verlief im 19. Jahrhundert Deutschlands von andern beargwöhnter Aufstieg zu Europas Wirtschaftshegemon noch vor dem lange dominierenden Großbritannien, bis im Jahre 1914 dann die Waffen sprachen.

China befindet sich nicht in einer handelspolitischen und konjunkturellen Krise wie damals das Deutsche Reich. Aber die Zuwachsraten von Export und wirtschaftlichem Wachstum haben in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Die sozialen Gegensätze und Spannungen wachsen, und die Legimitation der Herrschenden ist nicht mehr so unangefochten wie früher. Alte und neue Eliten bekämpfen einander, das Militär, nationale Kräfte und andere Hardliner wollen messbare Erfolge sehen, und sei es durch eine Kanonenbootpolitik.

Die wirtschaftlichen Verflechtungen beider Länder sind so dicht wie nie

Kaiser Wilhelm II. war ein Vetter des englischen Königs Georg V. und des russischen Zaren Nikolaus’ II. Doch selbst diese verwandtschaftlichen Bande vermochten die Katastrophe nicht aufzuhalten. Geschweige denn, dass es die zunehmende wirtschaftliche Integration jener Zeit konnte. Ein vergleichbares Phänomen zeigt sich in der gegenwärtigen Konstellation: Die Streithähne im Pazifik wachsen zwar einerseits ökonomisch zusammen, rücken andererseits politisch aber auseinander.

Ein Blick in die Statistik zeigt, wie eng die asiatischen Volkswirtschaften untereinander verflochten sind. Japan, die zweitgrößte Volkswirtschaft des Kontinents und drittgrößte der Welt, lieferte 1990 gerade einmal 31,1 Prozent seiner Ausfuhren in die asiatischen Länder. China spielte mit einem Anteil von 2,1 Prozent praktisch keine Rolle. Heute ist China mit einem Anteil von rund 20 Prozent der mit Abstand größte Markt für japanische Waren. Rund 56 Prozent aller Exporte gehen in die asiatischen Länder zusammengenommen. Die Tendenz ist steigend.

Ein ähnliches Bild bietet sich beim Blick auf die Investitionen. Zwar investierten japanische Unternehmen in den vergangenen Jahren immer noch am meisten in den Vereinigten Staaten von Amerika, doch die Volksrepublik China ist während dieser Zeit an allen anderen Zielregionen vorbeigeschossen und nimmt mittlerweile unangefochten den zweiten Platz ein. Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Japan und China sind so dicht, dass jede Zuspitzung der Krise um die Felseninseln im Ostchinesischen Meer auch schwere wirtschaftliche Konsequenzen hätte.

Japans Exportunternehmen haben das im September 2012 schon einmal zu spüren bekommen, nachdem Tokio die umstrittene Inselgruppe verstaatlicht hatte. In China kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen und zu den erwähnten Boykotten. Der Absatz des Automobilkonzerns Toyota brach deutlich ein. Japans Ausfuhren nach China gingen im September 2012 um mehr als 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück. Deswegen mahnen derzeit die japanischen Exporteure Regierungschef Shinzo Abe, die Wirtschaftsbeziehungen mit seiner nationalistischen Agenda nicht zu gefährden und nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.

Als Produktionsstandort wird China zunehmend uninteressant

Die chinesische und die japanische Volkswirtschaft ergänzen sich gut. Japan ist für China heute bereits das größte Empfängerland für Exporte hinter Amerika. Japans technisch führende Unternehmen verkaufen Maschinen, Anlagen, Chips und Hochtechnik, ohne die viele chinesische Fabriken nicht produzieren könnten. Zudem haben viele japanische Unternehmen Arbeitsplätze nach China verlagert, weil dort die Löhne niedriger sind. Kein anderes Land investiert mehr in der Volksrepublik. Von bis zu 10 Millionen Chinesen, die mittlerweile in japanischen Unternehmen arbeiten, ist in Tokio die Rede.

Und doch: Der Konflikt zwischen Japan und China zeigt erste Spuren. China wird als Produktionsstandort für die Unternehmen aus dem Land der aufgehenden Sonne immer weniger interessant. Das hat mit steigenden Arbeitskosten zu tun, vor allem aber mit den politischen Spannungen. Jeden Sommer befragt die Bank für internationale Zusammenarbeit in Tokio Unternehmen, die mindestens an einer Produktionsstätte außerhalb Japans beteiligt sind. Bislang landete die Volksrepublik China immer auf Platz eins. Sie galt als interessantester Ort für Investitionen. In diesem Jahr sackte China auf Platz vier ab – hinter Indonesien, Indien und Thailand. Ein Drittel der Befragten begründeten ihre Entscheidung mit der Sorge über die Sicherheitslage.

Ministerpräsident Shinzo Abe bestärkt diesen Trend japanischer Unternehmensführer, sich von China ab- und den südostasiatischen Nachbarländern zuzuwenden. Seit seinem Amtsantritt hat der Japaner alle Länder besucht, die im Verband Südostasiatischer Staaten (Asean) organisiert sind. Vier der zehn Mitgliedstaaten haben wie Japan einen Konflikt mit China über Inseln im Meer, und die Auseinandersetzung wird zunehmend aggressiver.

Chinesische Touristen sind in Japan besonders beliebt

Daran ändert auch die wirtschaftliche Integration zwischen Asean und China nichts, die so eng ist wie nie zuvor. Seit Inkrafttreten eines Freihandelsabkommens im Jahre 2010 hat sich der Warenaustausch fast verdoppelt. Mit 10,3 Prozent des chinesischen Gesamtvolumens ist die Staatengemeinschaft hinter der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten der drittwichtigste Wirtschaftsblock, mit dem die Volksrepublik Handel treibt

Zumindest die aktuellen Handelsbeziehungen belastet die neue Eskalationsstufe im Konflikt zwischen Japan und China bisher nicht. Die japanischen Autokonzerne Honda und Nissan meldeten dieser Tage sogar Rekordumsätze für den November. Honda legte im Jahresvergleich um 42,6 Prozent zu, Nissan um 27,9 Prozent, freilich auch wegen des geringen Ausgangswerts im Boykottjahr. „Es ist, als sei der Boykott japanischer Waren eine Geschichte aus grauer Vorzeit“, freuten sich japanische Unternehmer.

Die Wirtschaftszeitung „Nikkei“ berichtete vor wenigen Tagen, dass auch die chinesischen Touristen wieder nach Tokio reisten. 121.400 waren es im Oktober, 74,1 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Einkaufszentren sind frohen Mutes. „Huanying, willkommen“, steht in vielen Schaufenstern auch auf Chinesisch. Die Besucher aus China sind besonders beliebt, denn sie kaufen für deutlich mehr Geld Waren in Japan ein als die Touristen aus den anderen asiatischen Ländern.

Chinesen können in Japan seit einiger Zeit mit ihrer heimischen Union-Pay-Karte bezahlen. Das Volumen der Transaktionen hat sich zwischen März und Oktober dieses Jahres verdoppelt. Allem Säbelgerassel zum Trotz festigen sich die japanisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen also weiter. Doch das Jahr 2012 hat gezeigt, wie schnell sich das ändern kann. Der Trend, sich stärker nach Südostasien auszurichten, wird sich deswegen in den japanischen Unternehmen eher noch beschleunigen.