Gesellschaft

Indigene Völker: „Wir sind in Gefahr“

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In den indigenen Siedlungen in der Nähe der brasilinaischen Amazonas-Metropole Manaus ist das Virus bereits angekommen.

Das Indianerreservat Xingu ist wie eine grüne Insel. Das Gebiet im Norden des brasilianischen Bundesstaats Mato Grosso, wo auf einer Fläche von 26000 Quadratkilometern 16 indigene Völker leben, ist von Sojafeldern umgeben, die sich in den vergangenen Jahren immer weiter ausgedehnt haben und längst an die Grenzen des Reservats stoßen. Die Indigenen klagen über Pflanzenschutzmittel, die ihre Flüsse vergiften, über den Rückgang des Wildtierbestands, über Krankheiten, die sich breitmachen. Und nun sind in den Gemeinden rund um das Xingu-Reservat im April auch noch erste Fälle des Coronavirus registriert worden.

Sollte das Virus in das Reservat vordringen, könnte das fatale Folgen haben, warnen Gesundheitsfachleute. Das Immunsystem der Indigenen ist besonders anfällig für eingeschleppte Krankheiten. Als die ersten weißen Eroberer in Südamerika auf die Urvölker stießen, starben Millionen Indigene an den Viren und Krankheiten, die die Europäer mitgebracht hatten. Pocken, Masern und Grippeviren töteten ab dem 16. Jahrhundert rund 90 Prozent der Indigenen im Gebiet des heutigen Mato Grosso. Ganze Völker verschwanden.

Sollte nun das Coronavirus in die indigenen Gemeinschaften gelangen, ließe es sich kaum noch aufhalten. Quarantäne- oder verstärkte Hygienemaßnahmen sind dort kaum umzusetzen. Schon ohne Pandemie ist die medizinische Versorgung prekär. Viele Indigene leiden unter Mangelernährung. Die Bewohner des Xingu-Reservats haben sich deshalb selbst isoliert. Alle Zufahrtswege sind gesperrt. Wer im Reservat ist, bleibt dort. Wer draußen ist, kommt nicht mehr rein.

„Wir sind in Gefahr“

Sicher vor dem Coronavirus sind die Indigenen aber auch so nicht. Goldgräber und Holzfäller dringen illegal in die Reservate ein, um sich an den Schätzen des Regenwalds zu bereichern. Ein alarmierendes Beispiel ist das Territorium der Yanomami zwischen Brasilien und Venezuela. In dem Gebiet, das so groß ist wie Portugal, halten sich Tausende illegale Goldgräber auf. Einige ihrer Lager befinden sich in unmittelbarer Nähe von Yanomami-Siedlungen. Selbst Einsätze der Armee haben die Goldgräber nicht davon abgehalten, immer wieder zurückzukehren. Aus dem Reservat der Yanomami stammte auch der 15 Jahre alte Alvinei Xirixana, der am 10. April in einem Krankenhaus in der Stadt Boa Vista an den Folgen des Coronavirus starb. „Wir sind in Gefahr“, schrieb die Vertretung der Yanomami darauf in einem Brandbrief.

Auch das „Gesundheitssekretariat für Indigene“ hat inzwischen Maßnahmen ergriffen, um die indigene Bevölkerung Brasiliens zu schützen. Doch viele misstrauen der Regierung, seit Jair Bolsonaro an der Macht ist. Sie sehen den Präsidenten als ihren Feind an, da er den Bergbau und andere kommerzielle Aktivitäten in Indianerterritorien legalisieren will. Entsprechende Gesetze wurden von der Regierung wieder aufgegriffen, stoßen jedoch auf den Widerstand von Teilen des Kongresses und der Gerichte.

Zugleich hat die Regierung die Mittel der Umwelt- und der Indianerbehörde weiter gekürzt und personelle Veränderungen vorgenommen, die aus der Sicht der Indigenen nichts Gutes erahnen lassen und illegale Goldgräber und Holzfäller ermuntern, in die Gebiete der Ureinwohner vorzudringen. Dazu passt auch die Entlassung zweier wichtiger Mitarbeiter der Umweltbehörde vor einigen Tagen. Die Entlassung war laut brasilianischen Medien eine Reaktion auf einen Fernsehbeitrag über eine großangelegte Operation der Umweltbehörde gegen Holzfäller und Goldsucher.

Die Yanomami stehen zudem von beiden Seiten ihres Territoriums unter Druck. Auch das Regime in Venezuela kümmert sich kaum um die Rechte der Urvölker. Illegal abgebautes Gold ist zu einer der wichtigsten Dollarquellen in dem Land geworden. Die Zahl der illegalen Minen und Goldsucher ist in den vergangenen Jahren explodiert. Das wertvolle Metall lässt sich in Venezuela leicht verkaufen, da die Regierung alles aufkauft.

Erste Fälle wurden bereits gemeldet

Der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado warnt zusammen mit anderen Prominenten in einem offenen Brief vor einem „Genozid“. Die Indigenen hätten der Pandemie nichts entgegenzusetzen. „Sie sind nicht vorbereitet auf die Krankheiten der Weißen“, schreibt Salgado und fordert von der Regierung und der Justiz endlich wirksame Maßnahmen, „um illegale Eindringlinge zu entfernen und die Gesundheit der Indigenen zu garantieren“.

Möglicherweise aber kommen all die Warnungen zu spät. Auch im brasilianischen Bundesstaat Pará ergab die Autopsie einer verstorbenen Indigenen einen positiven Befund. Mehrere weitere Bewohner eines Reservats, die Kontakt mit einem nichtindigenen Arzt hatten, wurden positiv auf das Coronavirus getestet. Auch aus Peru und Kolumbien wurden erste Fälle gemeldet. Und die Pandemie dringt immer tiefer in das Amazonasgebiet vor. Besonders erschreckend ist die Situation in der brasilianischen Metropole Manaus sowie in Iquitos in Peru, wo die Fallzahlen geradezu explodiert sind.