Politik

Fraktur: Das Modell Maulkorb

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Das Modell Maulkorb: Manche wachsen über sich hinaus.

Es stimmt schon: In der Krise zeigt sich der Charakter. Was sind das nur für Gesellen, die Klopapier zu Wucherpreisen verticken und gefälschte Gesichtsmasken auf den Markt bringen? Da kommen einem ja fast noch die Räuber ehrlicher vor, die in den menschenleeren Fußgängerzonen Geldautomaten sprengen, auch wenn sie natürlich noch ein bisschen hätten warten können, bis die Knete aus Helikoptern abgeworfen wird. Andere dagegen wachsen in der Not über sich hinaus, teilen selbstlos ihren Rollenvorrat mit Leuten, die das perforierte Papier dringender brauchen, oder nähen Atemschutz sogar noch für ihren Hund.

Am meisten sollte man sich über jene freuen, die im Zuge der Krise vom Saulus zum Paulus geworden sind wie etwa der frühere Corona-Verharmloser Trump. Der glaubt jetzt sogar, dass er sich in seinem sagenhaften Kampf gegen ein zunächst von ihm belächeltes Virus als medizinisches Naturtalent erwiesen habe. Und heißt es nicht schon im Lukas-Evangelium, dass es im Himmel mehr Freude gebe über einen einzigen Sünder, der bereue, als über 99 Virologen, die keine Reue nötig hätten?

Wer auch noch die Gleichnisse Jesu über das verlorene Schaf und die verlorene Drachme kennt, wird ermessen können, wie groß erst unsere Freude über die Rückkehr des verlorenen Abonnenten Ruprecht Polenz ist. Er hatte vor zwei Jahren öffentlich sein Jahrzehnte währendes Abonnement gekündigt, weil diese Zeitung in der Rubrik „Fremde Federn“ einen Text des AfD-Fraktionsvorsitzenden Gauland abgedruckt hatte. Nun aber ist der ehemalige CDU-Generalsekretär wieder da, wie er abermals öffentlich erklärte, weil wir inzwischen gegenüber der AfD „eine kritischere Haltung“ hätten und er, Polenz, „in diesen schweren Zeiten Qualitätsjournalismus unterstützen“ wolle.

Bravo, können wir da nur rufen! Wir sind in diesen schweren Zeiten für jedes Abo dankbar, auch wenn es nur das Ein-Euro-Elektro-Abo ist, das zurzeit weggeht wie geschnitten Brot. Da wollen auch wir nicht kleinlich sein und nachkarten in der Frage, seit wann wir eine kritischere Haltung zur AfD haben. Allerdings gebieten uns die Regeln des Qualitätsjournalismus, darauf aufmerksam zu machen, dass auch ein AfD-Mann, der gekündigt hatte, zum 1. Mai zurückkehren wird, sogar als Print- und Online-Abonnent, wie er schreibt. Hoffentlich verleitet das den Leser Polenz nicht wieder zu einer Kurzschlussreaktion. Zu unserer Verteidigung wollen wir anführen, dass ein volles Print-Abo den Qualitätsjournalismus in schweren Zeiten immer noch etwas mehr unterstützt als das digitale Sonderangebot.

Unabhängig davon bleiben wir bei der Empfehlung, die wir an dieser Stelle schon vor einiger Zeit geäußert hatten: Man sollte nicht zu schnell sein Abonnement kündigen. Oder, noch besser, mehrere Abos haben, damit man immer dann eines kündigen kann, wenn wir wieder einmal zu kritisch oder zu unkritisch gegenüber der AfD waren.