Gesellschaft

Opioidkrise in Amerika: Bis zu 200 Tabletten pro Person und Jahr

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Öfter verschrieben worden als vermutet: opioidhaltige Schmerzmittel wie Oxycodon

Neue Daten belegen, dass in den Vereinigten Staaten noch mehr opioidhaltige Schmerzmittel verschrieben wurden als bislang vermutet. Die Freigabe der Daten hatte die „Washington Post“ vor Gericht erstritten.

In den Vereinigten Staaten sind in den Jahren 2006 bis 2012 mehr opioidhaltige Schmerzmittel wie Oxycodon und Hydrocodon verschrieben worden als bislang vermutet. Nach jetzt veröffentlichten Daten der Drogenvollzugsbehörde (DEA) des Justizministeriums in Washington konsumierten Amerikaner in sechs Jahren etwa 76 Milliarden der Tabletten. Nach Angaben der „Washington Post“, die die Freigabe der Daten vor Gericht erstritten hatte, nahm jeder Bewohner der Vereinigten Staaten jährlich durchschnittlich 36 der wegen hoher Suchtgefahr in Verruf geratenen Medikamente.

Wie der größte bekannte Datensatz zu dem Thema zeigt, zieht sich die sogenannte Opioidkrise fast durch das ganze Land. „Die Epidemie kennt keine Grenzen, Sie hat sich überall ausgebreitet“, sagte Scott Higham, ein Reporter der „Washington Post“, dem Radiosender NPR am Mittwoch. Nach Schätzungen der Zentren für Gesundheitskontrolle und Prävention (CDC) starben allein im Jahr 2017 mehr als 72.000 Amerikaner durch Überdosen. Mehr als zwei Drittel von ihnen hatten Opioide konsumiert.

Zugleich zeigt der nun erstmals ausgewertete Datensatz der DEA, dass der Tablettenkonsum unerwartet stark variiert. Für einige Bezirke des Bundesstaats West Virginia, dem Epizentrum der Opioidkrise, belegen die Aufzeichnungen bis zu 200 Tabletten je Person und Jahr. Für den Bezirk Hooker in Nebraska führten sie dagegen keinen messbaren Konsum der verschreibungspflichtigen Medikamente auf.

Über die Gründe wird gestritten. Viele Beobachter machen eine eher lockere Verschreibungspraxis („overprescribing“) in den neunziger Jahren verantwortlich, als Ärzte bei Schmerzen immer häufiger Medikamente wie Oxycodon empfahlen. Pharmakonzerne warben damals mit schneller Schmerzlinderung und einem geringen Risiko, von den Arzneien abhängig zu werden. In den Jahren 1999 bis 2011 verdreifachte sich daraufhin der Konsum opioidhaltiger Schmerzmittel. „Die Daten der DEA zeigen, dass es viele Verantwortliche gibt. Die Hersteller und Vertreiber tragen ebenso Verantwortung wie Ärzte und Apotheker. Wir haben es mit einer streng kontrollierten Lieferkette zu tun. Aber wenn ein Glied der Kette bricht, kollabiert alles. In der Lieferkette gab es immer wieder Brüche, die niemand repariert hat“, sagte Higham.

Warnung vor zu viel Optimismus

Als die Bundesstaaten Ohio und Missouri vor einigen Jahren begannen, Klagen gegen Pharmakonzerne wie Purdue Pharma und Janssen Pharmaceuticals einzureichen, wuchs auch das Interesse an Daten, um mögliches „overprescribing“ vor Gericht belegen zu können. Wie die „Washington Post“ berichtet, reichten inzwischen fast 2000 Städte und Bezirke vor einem amerikanischen Bundesgericht Klage gegen mehr als 20 Hersteller opioidhaltiger Medikamente ein. Während des Prozesses erlaubte das Gericht den Parteien, den bislang geheimen Datensatz der Drogenvollzugsbehörde einzusehen.

Unterstützt von der „Gazette-Mail“ erstritt schließlich auch die „Washington Post“ das Recht, die Erhebungen der Jahre 2006 bis 2012 auszuwerten. Die Daten für die Jahre 2013 bis 2014 bleiben dagegen auf Anordnung des Gerichts vorerst weiter unter Verschluss.

Wie die CDC am Mittwoch mitteilten, scheint sich der Trend zunehmender tödlicher Überdosen aber umzukehren. Nach fast 30 Jahren registrierte die Bundesbehörde für das Jahr 2018 erstmals einen Rückgang der Zahl der Toten. Während im Jahr 2017 mehr als 72.000 „overdose deaths“ gezählt wurden, sank die Zahl im vergangenen Jahr um etwa fünf Prozent auf knapp 69.000. „Die vorläufigen Zahlen belegen, dass Amerikas Versuche fruchten, die Opioidsucht einzudämmen. Es werden Leben gerettet, und wir fangen an, den Kampf gegen die Krise zu gewinnen“, teilte der amerikanische Gesundheitsminister Alex Azar mit.

Vertreter amerikanischer Gesundheitsbehörden warnten aber vor zu viel Optimismus. Im Jahr 2017 wurde dem Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen zufolge weltweit mehr Kokain produziert als je zuvor. Allein in den Vereinigten Staaten starben mehr als 14.000 Menschen durch eine Überdosis des Rauschgifts.