Stadtluft macht träge und dick? Das war mal. Das Problem Übergewicht verlagert sich zusehends aufs Land, hat ein weltweites Forschernetz herausgefunden. Und am schlimmsten trifft es oft die Frauen.
Fast überall auf der Welt werden die Menschen dicker. Das sehen Mediziner und Bevölkerungsforscher seit langem mit Sorge. Eine Besonderheit gibt es aber offenbar, die relativ neu und ebenso überraschend ist: Nicht die Städter mit ihrem vermeintlich ausschweifenden Lebensstil legen sich heute die üppigsten Speckpolster zu, sondern auf dem Land grassiert die Übergewichtsepidemie.
Vor ein paar Jahrzehnten war das noch anders, jedenfalls war das aus den damaligen Bevölkerungsdaten ablesbar. In drei Viertel der Länder lag 1985 noch der Body-Mass-Index der Stadtbevölkerung deutlich über demjenigen der Dorfbewohner. Die Erklärung dafür schien durchaus plausibel: Menschen, die in die Städte ziehen (die Verstädterung hält immer noch an), werden quasi im Überfluss mit hochgradig verarbeitenden, fett-, salz- und zuckerreichen Nahrungsmitteln versorgt. Gleichzeitig bewegt sich ein Großteil der Stadtmenschen weniger als auf dem Land – zumindest sollte das in den weniger wohlhabenden, aber bevölkerungsreichen Ländern gelten, wo man auf dem Dorf – so die alte Theorie – von morgens bis abends damit beschäftigt ist, für sich und die Seinen den Lebensunterhalt und Lebensmittel zu besorgen. Körperlich sollte das Landleben nach dieser Vorstellung fordernder sein und der Kalorienverbrauch entsprechend größer – die Versorgung mit Lebensmitteln aber insgesamt schlechter. Der Mangel war lange in der Provinz zu Hause.
Studie mit 112 Millionen Erwachsenen
Das hat sich wohl sogar in ärmeren Weltgegenden schnell geändert. Jedenfalls sagen das die Daten aus den vergangenen 33 Jahren, die ein weltweites Konsortium von mehr als tausend Forschern jetzt zusammengetragen und ausgewertet hat. Mehr als 112 Millionen Erwachsene aus fast allen Erdteilen wurden betrachtet. Ergebnis: Um fünf bis sechs Kilogramm sind die Menschen im Schnitt schwerer geworden. Obwohl der Anteil der Menschen, die in Städte gezogen ist stetig wächst – von 41 auf 55 Prozent in den drei Dekaden –, hat sich das Problem der Fettleibigkeit in den dörflichen Gegenden überproportional verschärft: Inzwischen ist mehr als die Hälfte der statistischen Gewichtszunahme auf die Landbevölkerung zurückzuführen.
In einigen armen Ländern wie Bangladesch, Honduras oder Ägypten konzentriert sich die Gewichtszunahme sogar zu mehr als achtzig Prozent auf die Provinzen. Die Forscher, die darüber in „Nature“ berichten, halten die Entwicklung für ein Abbild der inzwischen veränderten Versorgungslage: Mittlerweile haben viele der gesundheitsschädlichen, kalorienreichen Nahrungsmittel auch die entlegensten Dörfer erreicht. Die „kulinarische“ Urbanisierung hat, so gesehen, alle erreicht, der Hunger ist nicht mehr unbedingt auf den Dörfern zu Hause. Der körperliche Aufwand der Nahrungsmittelbeschaffung entfällt, und die zunehmende Motorisierung tut ein Übriges.
Benachteiligung der Frauen?
Die Übergewichtsepidemie der Landbevölkerung ist aber keineswegs nur auf die weniger wohlhabenden Weltgegenden beschränkt. Auch in den reichen Ländern holen die Landeier auf. Hier fällt vor allem auf, dass die Frauen – rein statistisch – seit 1985 vergleichsweise mehr zunehmen als die Männer. Wieso das? Weil, so die Erklärungsversuche der Wissenschaftler, die Frauen in den Dörfern mehrheitlich über weniger Einkommen verfügen, sich weniger gesunde Lebensmittel leisten können und auch seltener Gelegenheiten haben, sich um ihre sportliche Fitness zu kümmern. Gesundheitsprävention und soziale Verhältnisse sind, so die Theorie, bei den Dorfbewohnerinnen (aber auch bei vielen männlichen Dorfbewohner) prekärer als in der Stadt.