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Apps für Blinde: Wenn das Smartphone vorliest

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Michael Spehr

Smartphones bringen für blinde Menschen oder Sehbehinderte Bedienungshilfen mit, die kaum jemand kennt. Diese Spezialfunktionen helfen auch, wenn mit den Augen alles in Ordnung ist.

In der Apple-Welt gibt es seit vielen Jahren Voice Over, das im Mac-Betriebssystem OS X 10.4 debütierte und die Rechnerbedienung für Blinde und Sehbehinderte erleichtert. Es gehört auch zum iOS-Betriebssystem von iPhone und iPad und ist mit seiner Bildschirmlesefunktion nichts für Sehende. Denn alles wird vorgesprochen, jede einzelne Schaltfläche. Blinde Menschen hingegen sind begeistert von diesem „Screen Reader“, sie können einen berührungsempfindlichen Bildschirm bedienen, was bis dahin als unmöglich galt.

Voice Over funktioniert mit allen Apple-Apps und vielen von Drittanbietern. Spannender für den Normalnutzer sind die Funktionen „Auswahl sprechen“ und „Bildschirminhalt sprechen“, die sich in den Bedienungshilfen unter Sprachausgabe finden. Die zweite Funktion kann man dauerhaft eingeschaltet lassen. Wann immer man mag, lässt sich mit einem Zwei-Finger-Wisch vom oberen Bildschirmrand nach unten eine Vorlesefunktion starten, die mit synthetischer Stimme den gesamten Bildschirmtext wiedergibt. Das ist faszinierend, auch für Sehende. Eine lange E-Mail-Nachricht zum Beispiel wird mit der Siri-Stimme ausgegeben, etwas holprig, aber überaus verständlich, und das Sprechtempo lässt sich anpassen.

Blinde Menschen, die eine Sprachausgabe täglich nutzen, stellen meist ein extrem hohes Tempo ein, selbst wenn die Natürlichkeit der schnell gesprochenen Sprache darunter leidet. Das Gehirn gewöhne sich an die „schnellen Stimmen“, sagen Blinde, und nach einigem Training hören sie so flink, wie Sehende mit den Augen lesen. 400 Worte in der Minute sind durchaus ein Standard-Hörtempo für Blinde, und in einigen amerikanischen Studien haben Probanden angeblich noch deutlich höhere Hörgeschwindigkeiten erreicht.

Man prüfe unter Sprachausgabe und Stimmen

Auf dem iPhone, iPad und sogar der Apple Watch steht Voice Over stets parat, und eine weitere Finesse ist die Fähigkeit der Software, die Bildschirmsprache automatisch zu erkennen und die akustische Ausgabe entsprechend anzupassen. Die meisten synthetischen Stimmen gibt es in einer Standardversion und einer erweiterten mit besserer Akustik. Man prüfe unter Sprachausgabe und Stimmen. Weiterhin funktioniert Voice Over auch mit Bluetooth-Wiedergabegeräten wie Headsets, Lautsprechern und Freisprecheinrichtungen im Auto.

In der Android-Welt heißt der Screen Reader Talkback. Er gehört leider nicht auf allen Geräten zur Standardausstattung und ist Teil der „Android Accessibility Suite“. Im Play Store von Google kann die App geladen werden. Talkback findet sich anschließend in den Einstellungen unter Bedienungshilfen oder Intelligente Unterstützung, je nach Gerät und Android-Version. Auch mit Talkback lässt sich die Sprechgeschwindigkeit und Tonhöhe einstellen, die Sprache auswählen, und auch hier gilt: Für Sehende bringt das generelle Einschalten des Screen Readers nichts. Doch wie in der Apple-Welt kann man die Vorlesefunktion selektiv verwenden, der entsprechende Menüeintrag hieß bei unserem Androiden „Vorlesen“.

Ist das Menü aktiviert, erscheint rechts neben den drei Android-Menüschaltflächen am unteren Bildschirmrand eine neue vierte in der Form eines kleinen Männchens mit ausgestreckten Armen. Tippt man darauf, kann man Elemente auf dem Bildschirm auswählen, um diese vorlesen zu lassen. Oder man markiert einen Bildschirmausschnitt mit dem Finger, um abermals die synthetische Stimme zu starten.

Das will man gar nicht hören

Meist stören während der Wiedergabe, vor allem von Internetseiten, die vielen kleinteiligen Textelemente um den eigentlichen Haupttext herum. Das will man gar nicht hören. Nicht zuletzt muss man darüber sprechen, wie Websites gestaltet werden. Das Drapieren von allen nur denkbaren Elementen rund um den Text macht es jedem Leseprogramm und jedem Leser mit Handicap schwer. Internetseiten müssen barrierefrei werden, und davon sind die meisten großen Portale weit entfernt. Was die Augen flink ignorieren, ist beim Lesen mit den Ohren nur ärgerlich.

Wer hier ein bisschen mehr Raffinesse sucht, werfe einen Blick auf Später-Lesen-Tools wie etwa Pocket oder Instapaper. Beide Dienste gibt es als App und Browser-Anwendung. In der Basisversion sind sie gratis nutzbar. Sie arbeiten mit Leselisten und versuchen, nur den reinen Text mitsamt zugehörigen Bildern darzustellen. Alles Beiwerk bleibt außen vor. Man speichert im Web-Browser oder auf dem Smartphone einen Artikel und liest ihn später. Mit der reduzierten, schlichten Darstellung kommen Voice Over und Talkback deutlich besser zurecht.

Aber nicht nur das: Pocket, das von der gemeinnützigen Mozilla-Stiftung entwickelt und vertrieben wird, hat einen eigenen Vorleser gleich eingebaut. Man tippe dazu in der Smartphone-App auf das Kopfhörer-Symbol und lasse sich überraschen. Die Vorlesegeschwindigkeit ist auch hier einstellbar.

Das Topprodukt aus der Reihe der elektronischen Vorleser ist der Voice Dream Reader, der 11 Euro für Android und 17 Euro für iOS kostet. Dafür bekommt man einen Assistenten, dessen Stimmen deutlich besser, weil natürlicher und angenehmer zu hören sind. Wir haben die iPhone-Variante ausprobiert. Eine Stimme für eine Sprache ist gratis mit dabei, weitere lassen sich zu Preisen von etwa fünf Euro nachkaufen. Der Voice Dream Reader unterstützt verschiedene Stimmen in einigen Dutzend Sprachen von verschiedenen Herstellern. Jede einzelne lässt sich hinsichtlich Geschwindigkeit, Stimmhöhe und Lautstärke anpassen. Man kann also muttersprachliche Texte etwas schneller ausgeben als fremdsprachliche.

Dass man so gut wie jedes Detail einstellen kann, ist der große Pluspunkt dieser App. Dank der erstklassigen Stimmen macht Hören viel Spaß, erfordert indes einige Zeit der Eingewöhnung. Mit Hilfe des Voice Dream Readers kann man aus elektronisch vorliegenden Büchern sogar Hörbücher machen. Aber die Grenzen der synthetischen Stimmen sind offenkundig. Die akustische Qualität eines von professionellen Sprechern erstellten Hörbuchs wird bei weitem nicht erreicht.