Die Gegenwart

Politik und Populismus: Warum die Politik verteidigt werden muss

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Blick auf die Kuppel des Reichstagsgebäudes in Berlin, dem Sitz des Deutschen Bundestages

Den diskursiven, von Kompromissen gekennzeichneten Modus der Politik zu verteidigen, heißt nicht, ihm alles zuzutrauen. Mit Wertkonflikten tut er sich schwer, mit Identitätskonflikten noch schwerer. Ohne sich wirklich Rechenschaft darüber abgelegt zu haben, was es tat, hat sich Deutschland durch die Migrationspolitik beträchtliche Risiken aufgeladen. Sie geben dem Thema „Verteidigung der Politik“ eine ganz neue Dimension.

Jetzt gibt es die Essays des Ressorts „Die Gegenwart“ auch zum Hören – und zum Abonnieren, als Podcast. Auch diesen Text von Peter Graf Kielmansegg.

Im Jahr 1962 veröffentlichte der englische Politikwissenschaftler Bernhard Crick, „occasioned“, wie er – Thomas Hobbes zitierend – im Vorwort mitteilt, „by the disorders of the present time“, einen brillanten Essay mit dem Titel „In Defense of Politics“. Welche Unordnungen Crick genau im Sinn hatte, ist nicht überliefert. Ein gutes halbes Jahrhundert später ist die Verteidigung der Politik wieder einmal dringlich geworden. Und diesmal ist offensichtlich, warum Politik verteidigt werden muss. Sie wird weithin verachtet.

Meinungsumfragen wie Wahlergebnisse zeigen, dass die Politikverachtung oder Politikerverachtung – da ist kein großer Unterschied – einen Grad erreicht hat, der sie für die Demokratie gefährlich macht. Das, was wir Populismus zu nennen uns angewöhnt haben, lebt zu einem guten Teil von der Politikverachtung. Und betreibt das Verächtlich-Machen der Politik denn auch mit Eifer.

Aber was verteidigen wir eigentlich, wenn wir „die Politik“ gegen ihre Verächter verteidigen? Offenbar nicht das, was die Alltagssprache mit einem völlig entgrenzten, alles herrschaftliche Handeln bis hin zum mörderischen Treiben eines Hitler oder eines Assad einschließenden Begriff Politik nennt. Was Crick im Sinn hatte, als er zur „Verteidigung der Politik“ die Feder ergriff, war ein besonderer, hochzivilisierter Umgang mit den öffentlichen Angelegenheiten, der am einfachsten und treffendsten als Modus der Freiheit gekennzeichnet werden kann. Genau darum geht es auch heute.

Um diesen Modus genauer zu bestimmen, muss man scheinbar weit ausholen, aber eigentlich doch nur elementar Selbstverständliches in Erinnerung rufen. Bei Aristoteles findet sich, am Beginn des zweiten Buches seiner „Politik“, als erste und grundlegende Bestimmung des Wesens des Staates die – gegen Platon gerichtete – Aussage: „Seiner Natur nach ist der Staat eine Vielheit.“

Der Satz kommt schlicht daher, aber er spricht etwas Elementares aus. Für den Leser von heute wäre die aristotelische Einsicht etwa so zu formulieren: Wo Menschen in größeren Gemeinschaften zusammenleben, treffen unhintergehbar Weltsichten, Lebenslagen, Überzeugungen sowie Interessen in großer Vielfalt und Verschiedenartigkeit aufeinander. In einem wohlgeordneten Gemeinwesen wird diese Vielfalt nicht unterdrückt, vielmehr verständigen sich die vielen Verschiedenen auf Regeln, nach denen sie als Verschiedene zusammenleben können. Etwas anders formuliert: Ein wohlgeordnetes Gemeinwesen steht vor der Aufgabe, die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln aus der Vielfalt heraus und in Bejahung der Vielfalt immer wieder neu zu entwickeln.

Politik ist der Prozess, in dem die vielen Verschiedenen, alle mit den gleichen Rechten auf Teilhabe ausgestattet, in Respekt voreinander zu allgemeinverbindlichen Entscheidungen in den alle betreffenden Angelegenheiten gelangen. So Bernhard Crick. So aber auch schon Aristoteles: Er unterscheidet die Kunst der Selbstregierung, wie sie von Freien und Gleichen geübt wird, als „politische Regierungsweise“ von der „despotischen“, der herrschaftlichen Regierungsweise.