Medizin & Ernährung

Biomedizin: Algorithmen statt Tierversuche

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Können Computer Mäuseleben retten? Zumindest teilweise könnte dies bald der Fall sein.

Tests am Tier durch numerische Methode ersetzen zu können, ist ein reizvolles Ziel. Aber wie verlässlich sind die Vorhersagen der Computermodelle wirklich?

Für die Qualität eines Versuchsmodells ist Wiederholbarkeit ein wichtiger Maßstab. Dies ist auch bei Tierversuchen der Fall. Sie gelten in der Biomedizin weithin als Goldstandard. Doch dieser Status wird durch neue Technologien zunehmend in Frage gestellt. Forscher von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore, Maryland, haben Tierversuche mit Algorithmen verglichen. Und der Gewinner ist: der Computer.

Tierversuche konnten bei einer Testwiederholung zu 81 Prozent feststellen, ob eine Chemikalie giftig ist oder nicht. Computerbasierte Algorithmen schafften das in 87 Prozent der Fälle. Die Daten beziehen sich auf neun der meistgenutzten Sicherheitsprüfungen für Chemikalien. Sie machen weltweit 57 Prozent der Tierversuche in der Toxikologie aus.

„Die Ergebnisse sind augenöffnend“, meint Thomas Hartung. „Sie legen nahe, dass wir viele Tierversuche mit computerbasierten Voraussagen ersetzen und verlässlichere Resultate bekommen können.“ Vor kurzem haben Hartung und seine Kollegen ihre Arbeit zu dem Thema in der Zeitschrift „Toxicological Sciences“ veröffentlicht.

Sicherheitstests für Chemikalien

Lange war die Giftigkeit der meisten Chemikalien auf dem europäischen Markt nicht bekannt. Um dies zu ändern setzte die EU im Jahr 2007 die „Reach“-Verordnung in Kraft (engl.: Registration, Authorisation and Restriction of Chemicals). Sie verlangte von Verkäufern von Chemikalien, Sicherheitstests ihrer Produkte bei der europäischen Chemikalienbehörde ECHA (European Chemicals Agency) einzureichen. Viele Firmen griffen dabei auf Tierversuche zurück – meist, weil sie vorgeschrieben waren oder es keine etablierte Alternative gab. ECHA veröffentlichte jeweils die Daten.

Die Johns-Hopkins-Gruppe stellte mit diesen Informationen eine Datenbank von 10 000 chemischen Verbindungen zusammen, die toxikologischen Daten basierten auf bis zu 800 000 verschiedenen Giftigkeitstests. Diese bildeten die Grundlage für das Computermodell. Die Technologie basiert auf der sogenannten Read-Across-Methode. Dabei werden neue Chemikalien mit den Strukturen bekannter Chemikalien verglichen. Dies ist meist kostengünstiger und schneller als ein Tierversuch. Allerdings ist auch bei den Computermodellen nicht alles Gold, was glänzt. Hartung selbst weist darauf hin, dass die Auswertung von Read-Across-Modellen alles andere als einfach sei. Ein Sprecher von ECHA wiederum betont, dass computerbasierte Modelle bei komplexen chemischen Wirkungen an ihre Grenzen stoßen können.

Tierversuche liefern mehr Daten

Besonders bei der Frage nach der Karzinogenität – sprich: dem Potential, Krebs auszulösen – sowie der fraglichen Giftigkeit für Kinder oder in Bezug auf Umweltschäden reichten die Read-Across oft nicht aus, um klare Schlussfolgerungen zu ziehen. Außerdem, so ECHA, müssten für die Anwendung von computerbasierten Modellen die Strukturen der Chemikalien bereits bekannt sein. Dies sei bei maximal zwei Drittel aller Industriechemikalien der Fall. Auch sei noch unklar, inwieweit die Algorithmen Verunreinigungen in die Berechnung einbeziehen können. Bei Hunderten von Chemikalien seien Unreinheiten für die Giftigkeit verantwortlich. Komplexe Tierversuche lieferten hier deutlich mehr Zusatzdaten.

Nichtsdestotrotz wird die Strategie von der ECHA für interessant befunden. „Wenn es darum geht, Alternativen für Tierversuche bei einfacher Giftigkeit voranzutreiben, ist diese Initiative begrüßenswert“, so ECHA-Sprecher Mikko Väänänen. Es sei vorstellbar, diese im europäischen Kontext legal einzusetzen. Für komplexere toxische Wirkungen müsse man jedoch erst besser verstehen, was die Giftigkeit begründe. Hartung hingegen weist auf die Schwächen des Tierversuchs hin. Es sei ein Irrtum, dass das Tiermodell immer korrekte Voraussagen treffen könne.

„Wie kann ich denn gut schlafen, wenn ich weiß, dass ich nur achtzig Prozent der toxischen Wirkungen finde?“, fragt Hartung. Sicherlich könne man Tierversuche nicht einfach abschaffen. Doch ihre wissenschaftliche Qualität werde immer noch oft überschätzt. Die verantwortlichen Behörden müssten deshalb die Anforderungen an Alternativmethoden senken, fordert Hartung. Tierversuche seien Methoden, die eben auch große Schwächen hätten.