Mode & Design

Bill Cunninghams Nachlass: In die Mode geprügelt

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War zwischen den Schauen immer auf dem Fahrrad unterwegs: New-York-Times-Fotograf Bill Cunningham auf der New York Fashion Week am 8. September 2008

Bill Cunningham begründete die Street-Style-Fotografie. Nach seinem Tod fand die Familie die Aufzeichnungen des Modefotografen und stellte fest: zur Mode brachte ihn ein Trauma.

Fashion Week – das sind Designer, die neue Trends präsentieren, Einkäufer, die ihre Bestelllisten füllen, und Moderedakteure, die ihre nächsten Modestrecken planen. Und das sind Menschen, die sich abseits der Laufstege für Street-Style-Fotos aufstellen. Hunderte Blogs und Magazine widmen sich den Outfits der Modewochen-Besucher. Viele Frauen und immer mehr Männer planen ihre Outfits akribisch durch. Denn jedes Foto eines Street-Style-Fotografen verhilft ihnen zu Ruhm und Reichweite – und möglicherweise zu schönen Kooperationen mit Modemarken. Aus der Street-Style-Fotografie ist ein großes Business geworden, von dem Fotografierte, Modeunternehmen und Fotografen profitieren. Mit „Street“ hat das oft nur noch wenig zu tun.

Das war nicht immer so. Als Bill Cunningham in den siebziger Jahren mit der modernen Street-Style-Fotografie begann, war er ein einsamer Rufer in der Hochhauswüste. Passanten auf den Straßen New Yorks zu fotografieren – das galt fast schon als revolutionär. Frauen schauten irritiert, wenn Cunningham sie auf der Straße anhielt und ein Foto von ihrem Look machte. „On the street“ hieß seine legendäre Kolumne in der „New York Times“, in der er jahrzehntelang die Trends der Saison mit Dutzenden Fotos belegte. Im Jahr 2016 starb der Fotograf, der bis zuletzt nach Paris, Mailand und London gefahren war, im Alter von 87 Jahren. Er hinterließ ein Foto-Archiv, dessen Wert auf eine Million Dollar geschätzt wird.

Und nicht nur das. Wie jetzt bekannt wurde, umfasst sein Erbe mehr als Fotos. Nach seinem Tod tauchten zur Überraschung seiner Familie geheime Aufzeichnungen auf. „Bill hielt sein Familienleben in Boston und sein Arbeitsleben in New York streng getrennt“, schrieb seine Nichte Trish Simonson jetzt der „New York Times“. „Er erzählte uns über die Jahre Geschichten, doch nichts, was uns ein ganzes Bild davon vermittelt hätte, was er tat und wie er dazu kam.“

Für Fans des Street-Style-Pioniers ist dieses Buch so etwas wie ein sensationeller archäologischer Fund. Es ist unklar, wann Cunningham seine Memoiren namens „Fashion Climbing“ schrieb. Allerdings weisen mehrmals überarbeitete Passagen des Buches darauf hin, dass er lange daran gesessen haben muss. Der Titel bezieht sich auf seine Anfangsjahre, in denen er gegen den Willen seiner streng katholischen Familie mühsam die Erfolgsleiter in der Modeszene erklomm. Auf einer Seite zeichnete er den jungen Bill auf einer Leiter, ergänzt um einen Satz seiner Mutter: „Was werden die Nachbarn sagen?“

In seinen Aufzeichnungen berichtet er von seiner modebegeisterten Kindheit, vom Dienst während des Korea-Krieges (in dem er seinen Helm mit Blumen schmückte), dem Umzug nach New York im Jahr 1948, seinem Erfolg als Damenhutmacher und seinen Anfängen als Journalist. Der Fokus liegt auf dem Porträt des Künstlers als junger Mann, der „in einem irischen Vorort Bostons mit Spitzengardinen“ aufwächst und dessen Leidenschaften nicht mit den Erwartungen seiner Familie übereinstimmen. „Es ist ein Verbrechen, dass Familien nicht verstehen, wie ihre Kinder orientiert sein können“, schreibt Cunningham in einem der ersten Kapitel. „Meine arme Familie war wahrscheinlich zu Tode erschrocken von all diesen verrückten Ideen, die ich hatte, und bekämpfte jeden Zentimeter meines Weges.“

Über diese familiäre Ablehnung schreibt Cunningham offen und unverblümt – aber nicht gehässig. „Da war ich, vier Jahre alt, aufgebrezelt im schönsten Kleid meiner Schwester“, lautet der zweite Satz seiner Memoiren. „Frauenkleidung sprach meine Phantasie schon immer sehr an. An diesem Sommertag im Jahr 1933, mit meinem Rücken an der Wand des Esszimmers, das rosafarbene Organzakleid mit weitem Rock völlig durchnässt von meinen Tränen, schlug mich meine Mutter fürchterlich und drohte jedem Knochen meines Körpers, sollte ich es jemals wagen, wieder Mädchenkleidung zu tragen.“

Mit dem Fahrrad von Schau zu Schau

Diesen frühkindlichen Schock hat Bill Cunningham auf denkbar originelle Weise verarbeitet. Er selbst kleidete sich äußerst bescheiden in typisch männlichem Look, mit Chino-Hosen, festen Schuhen und der blauen Drillich-Jacke französischer Müllmänner. Mit der Kamera aber fing er die Frauen ein, die all diese phantasievollen weiblichen Entwürfe trugen. Überhaupt blieb er in seiner Lebensführung bescheiden, wie auch die Dokumentation „Bill Cunningham New York“ aus dem Jahr 2010 zeigt, der er nur widerwillig zustimmte. Mit einem klapprigen Fahrrad fuhr er in Manhattan von Schau zu Schau.

Das Buch „Fashion Climbing“ erzählt die Geschichte eines jungen Künstlers, der New York als Ort der Kreativität und Freiheit sieht – einen Ort, an dem er der sein kann, der er will. Die Rechte an dem Buch sicherte sich Penguin Books. Es soll im September veröffentlicht werden, pünktlich zur Fashion Week in New York, die er so liebte.