Gesellschaft

Freiheit und Furcht: Wie Eltern das Loslassen lernen

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Oh Gott, so hoch? Was kann da alles passieren? Meistens nicht sehr viel.

Kinder sollen Wurzeln haben, Flügel aber auch. Die Sache mit dem Loslassen ist für Eltern allerdings oft schwierig: Zu groß ist die Sorge um die Kleinen. Dabei kommt es oft auf das Kind an.

Das Kind kletterte wie immer nach Schulschluss auf den Baum, behende, trittsicher und noch ein bisschen höher als gewohnt, weil unten der freche und unbewegliche Luis stand. Angeberei beflügelt und macht leichtsinnig. Beim Absprung vom Ahorn ist der Arm im Weg, es knirscht unheilvoll. Schmerzensschreie nie gehörter Intensität hallen. Mit dieser Luftnummer landen Kind, Mutter und herbeitelefonierter Vater in der Notaufnahme. Vier Wochen Gips überschatten den Badesommer. War der Kletterspaß das denn wert? Ja, sagt der Neunjährige mit No-risk-no-fun-Miene und winkt lässig mit seinem rechten, nicht eingegipsten Arm ab. Klettern macht halt Spaß. Ja, sagt die Mutter, die sich nicht wenig wundert, dass sie keiner kritisiert hat, das Kind solcher „Gefahr“ ausgesetzt zu haben. Eher im Gegenteil. Der Assistenzarzt schnalzt anerkennend bei der Ursachenforschung zur Diagnose „glatter Durchbruch“ und kommentiert, er sei Stammgast in der Boulderhalle. Die Klassenlehrerin lässt sich gar den Baum zeigen und nickt verständnisvoll: „Das ist wirklich verführerisch, da hochzuklettern.“ Einzig der Vater fragt fachlich interessiert und bohrt kritisch nach, was konkret beim Absprung schiefgelaufen sei. Gefühlte hundertmal probiert, hundertmal ist nichts passiert.

Behüten und Freilassen – diesen Balanceakt müssen verantwortungsbewusste Eltern Tag für Tag neu für sich und ihren Nachwuchs bewältigen. Was kann man Kindern zutrauen, und wo wird es gefährlich? Diese Frage begleitet Eltern bis aufs Sterbebett, ganz gleich, wie erwachsen der Nachwuchs ist. So viel Freiheit wie möglich, so wenige Verbote wie nötig, das ist theoretisch ein toller Vorsatz und praktisch eine nicht lösbare Erziehungsaufgabe. Das scheinen frischgebackene Eltern zu ahnen, wenn sie die Geburtsanzeige garnieren: Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen, Wurzeln und Flügel. Wer wollte das vielzitierte Goethe-Wort ernsthaft bestreiten? Auch wenn die Sache mit den Flügeln in einer Bruchlandung bei den Baumwurzeln endet.