Wirtschaft

„Der Osten wird eklatant benachteiligt“

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Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich in Dresden

Sachsens Ministerpräsident Tillich will sich gegen Standortschließungen von Linde und Bombardier wehren. Außerdem weist er auf eine ungleiche Behandlung von Unternehmen unterschiedlicher Herkunft hin

Das Ziel, Ostdeutschland auf wirtschaftlich eigene Beine zu stellen und damit gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, rückt 27 Jahre nach der Wiedervereinigung in die Ferne. Erst zur Jahreswende stellten Unternehmen wie Linde oder Bombardier ostdeutsche Standorte in Frage. Für Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU ist das keine neue, aber umso besorgniserregendere Entwicklung. „Wir haben leider häufiger die Lage, dass große Unternehmen, die hier investiert haben, sich einfach wieder zurückziehen“, sagte Tillich im Gespräch mit der F.A.Z. „Ich erlebe immer wieder, dass sächsische Standorte, die auch aufgrund längerer Arbeitszeiten und geringerer Löhne sogar profitabler sind, aufgegeben werden, um Standorte im Westen zu schonen.“

Alle einheimischen Großunternehmen haben ihre Zentralen heute in Westdeutschland, wo sie die meisten Mitarbeiter haben und den Großteil ihrer Steuern zahlen. Nach der Wiedervereinigung verlegte kaum ein Unternehmen seinen Sitz in den Osten, vielmehr wurde in preiswerte Produktionsstandorte investiert. Doch selbst diese würden immer häufiger in Frage gestellt, sagt Tillich, der dabei auch eine neue, aggressive Art der Auseinandersetzung feststellt. Als Daimler im vergangenen Jahr den Bau eines Batteriewerks in Sachsen ankündigte, protestierte in Stuttgart der Gesamtbetriebsrat und forderte die Konzernleitung öffentlich auf, die Investition zu stoppen. „Umgekehrt hätte das einen Aufschrei gegeben, bei uns wird das für normal gehalten“, sagt Tillich.

Der CDU-Politiker kritisiert, dass in der Öffentlichkeit mit ungleichen Maßstäben gemessen werde. „Wenn in den alten Bundesländern 3500 Arbeitsplätze zur Disposition stehen würden wie bei Bombardier in Sachsen, wäre die Aufregung bei Gewerkschaften, Bundespolitik und auch Medien um ein Vielfaches größer.“ Dabei seien die Konsequenzen im Osten – abgesehen von den persönlichen Folgen für die Betroffenen – viel drastischer. „Das hat verheerende Auswirkungen, auch weil die Mitarbeiter kaum Alternativen in der Region haben“, sagt Tillich. Als Beispiel nennt er die Stadt Plauen im Vogtland, wo der Bushersteller Neoplan vor zwei Jahren seine Produktion aufgab und in die Türkei verlegte, was nach Philips und MAN Roland die dritte Werksschließung in der 65000-Einwohner-Stadt innerhalb eines Jahres gewesen sei, wodurch mehrere tausend Arbeitsplätze weggefallen seien.

Viele hätten ein völlig unrealistisches Bild vom Osten

Darüber hinaus sieht Tillich auch eine „eklatante Benachteiligung“ des Ostens. „Ich kenne Beispiele, wo Unternehmen von westdeutschen Herstellern explizit mit Verweis auf ihre ostdeutsche Herkunft aufgefordert wurden, ihre Angebote um bis zu 20 Prozent billiger zu machen. Das sind leider keine Einzelfälle.“ Viele hätten nach wie vor ein völlig unrealistisches Bild vom Osten, das auch Ergebnis fehlender eigener Anschauung sei, sagt Tillich. Nur so könne er sich erklären, dass westdeutsche Unternehmen sächsische Standorte heute oft nicht mehr mit deutschen, sondern mit tschechischen, bulgarischen oder sogar indischen und chinesischen Standorten verglichen.

Tillich kündigte an, sich vehement gegen Standortschließungen zu wehren. Gerade bei Linde in Dresden und Bombardier in Bautzen und Görlitz gehe es um hochqualifizierte Arbeitsplätze, von denen die Region ohnehin viel zu wenige habe. Zugleich forderte er aber auch von der Bundespolitik, dem Osten nicht noch zusätzliche Steine in den Weg zu legen, etwa mit der Forderung nach einem schnelleren Braunkohleausstieg. So vergäben in der strukturschwachen Lausitz Braunkohleunternehmen Aufträge über 700 Millionen Euro im Jahr, was deutlich mehr sei als die jährliche EU-Strukturförderung für ganz Sachsen.

„Wenn so ein Unternehmen schließt, weil manche eine noch schnellere Energiewende wollen, ist die Region tot“, sagt Tillich. Gerade die großen Energieerzeuger seien wichtige Anker, weil es nur wenige Kilometer weiter in Polen Sonderförderzonen mit null Prozent Unternehmensteuern für Neuansiedlungen gebe. „Das ist das eigentliche Problem: Ostdeutschland klemmt quasi wie in einem Sandwich zwischen dem wirtschaftlich erfolgreichen Westen und dem billigen Osteuropa“, erklärt Tillich. Das sei zwar nichts Neues, habe jedoch in der Vergangenheit durch niedrige Löhne und Subventionen kompensiert werden können.

In diesem Zusammenhang kritisiert Sachsens Regierungschef scharf den jüngsten Beschluss der Bundesregierung, die Netzentgelte für Strom in Deutschland nicht anzugleichen. „Das ist der Bruch einer festen Zusage.“ Ostdeutschland werde seit Beginn der Energiewende stark benachteiligt. Weil der Nordosten viel Ökostrom produziert und deshalb stark in den Netzausbau investiert, müssen Haushalte und Unternehmen dort zum Teil doppelt so hohe Netzkosten tragen wie im Westen, der wiederum vom Ost-Strom profitiert. Für energieintensive Unternehmen im Osten kommen so jährlich Mehrkosten im fünf- bis sechsstelligen Bereich zusammen.

Tillichs Unmut ist auch deshalb groß, weil der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel die vereinbarte Angleichung mit Rücksicht auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gekippt hat. „Bei der Anbindung der Offshore-Windkraftanlagen und den damit verbundenen Netzausbaukosten haben sich alle Länder solidarisch verhalten“, so Tillich. „Deshalb sage ich jetzt klipp und klar: Beim Thema Netzentgelte treten wir nicht als Bittsteller auf, sondern wir fordern gleiche Wettbewerbsbedingungen.“